Luhmann und die Beschreibung der Zukunft

28. September 2011

»Die Zukunft ist und bleibt unbekannt, denn mit jeder eintretenden Gegenwart schiebt sie sich hinaus, erneuert sich als Zukunft.«
Niklas Luhmann 1986
: 38

Ohne Zukunftserwartungen können Organisationen keine Entscheidungen treffen bzw. weder Bewusstseins- noch Kommunikationssysteme operieren. Vor diesem Hintergrund werden in aller Regelmäßigkeit Prognosen aufgestellt, die lang- oder mittelfristig vorhersagen wollen, was kommen wird (vgl. »Heute ist die Zukunft von gestern«). Oder aber es wird versucht, z.B. durch Regulierungsmaßnahmen oder andere Lenkungsformen mitzubestimmen, welche Zustände eintreten. Gleichwohl ist »die Zukunft [.] inhärent ungewiss […]. Wer hier mit apodiktischen Behauptungen kommt, disqualifiziert sich selbst. Das hat, wie man wissen kann, das politische Ansehen wissenschaftlicher Expertise ruiniert« (Gotthard Bechmann).

Mit der Frage »Wie können wir wissen, was künftig der Fall sein wird?« bzw. »In welchen Formen präsentiert sich die Zukunft in der Gegenwart?« beschäftigt sich auch Niklas Luhmann (1992: 129–147) aus historisch-soziologischer Perspektive in einem kurzen Text, in welchem er zunächst darauf aufmerksam macht, dass ›Zukunft‹ zwar keine Erfindung der Neuzeit ist, aber die mit ihrer Kontingenz verbundene Unsicherheit als ein relativ junges Phänomen beschrieben werden kann:

»Bis weit in die Neuzeit hinein hatte man das gesellschaftliche Leben in einem Essenzenkosmos wahrgenommen, der die Konstanz der Wesensformen und der Elemente und damit auch der Größenordnungen garantierte. […] Die Unsicherheiten der Zukunft hielten sich im Rahmen einer prinzipiellen Abgestimmtheit der Welt […]. An der harmonia mundi war nicht zu zweifeln.« (Luhmann (1991: 131)

Ab dem 18. Jahrhundert allerdings kippte dieser über viele Jahrhunderte stabile Glaube an die ewig gottgegebene, hierarchische und in sich perfekte Ordnung: »Das starre Gerüst der Schöpfung wurde durch die Fortschrittsidee […] in Bewegung gesetzt« und die moderne Gesellschaft fand sich fortan »in einer Schwebelage zwischen nicht mehr und noch nicht« (133). Anders formuliert: Die Gegenwart erscheint nunmehr als eine flüchtige Unterscheidung zwischen Vergangenheit (Identität) und Zukunft (Kontingenz).

Die Sicht auf diese ›Gegenwart‹ ist überdies grundsätzlich beobachterrelativ, denn jede Wirklichkeitssicht wird stets im operierenden Bewusstseins- oder Kommunikationssystem selbst erzeugt: »Die primäre Realität liegt, die Kognition mag auf sich reflektieren, wie sie will, nicht in ›der Welt draußen‹, sondern in den kognitiven Operationen selbst« (Luhmann 1996: 17). Wiederum anders formuliert: In sachlicher Hinsicht »fällt auf, dass die Referenz aller Zeichenverwendung, allen Sprachgebrauchs, aller Informationsverarbeitung zum Problem geworden ist« (137).

In sozialer Hinsicht diagnostiziert Luhmann dementsprechend einen »Autoritätsverlust«, denn keine Organisation (wie z.B. die Kirche im europäischen Mittelalter) verfügt heute noch über die exklusive Fähigkeit, »die Welt in der Welt zu repräsentieren und andere entsprechend zu überzeugen« (139), und kein soziales System besitzt in der funktional differenzierten Gesellschaft ein Primat in der Weltbeschreibung, welche qua Luhmann vielmehr durch eine »Politik der Verständigungen« gekennzeichnet ist:

»Verständigungen sind ausgehandelte Provisorien, auf die man sich eine zeitlang berufen kann. Sie besagen weder Konsens, noch bilden sie vernünftige oder auch nur richtige Problemlösungen. Sie fixieren nur dem Streit entzogene Bezugspunkte für weitere Kontroversen […]. Ihr Wert nimmt mit Alter nicht zu, sondern ab.« (140)

In zeitlicher Hinsicht wird aus dieser Perspektive eine Unterscheidung zwischen dem »Zukunftshorizont [.] der Gegenwart als dem Reich des Wahrscheinlichen/Unwahrscheinlichen« sowie den »zukünftigen Gegenwarten, die immer genau so sein werden, wie sie sein werden« notwendig, weshalb es stets nur eine »›provisorische‹ Voraussicht« geben kann (141). Und in dieser Lage wird jede (im Falle des Falles bereuenswerte) Entscheidung zu einem Risiko: »Jede Entscheidung kann unwillkommene Folgen auslösen. Nur verteilen sich Vorteile und Nachteile sowie Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten anders je nach dem, wie entschieden wird.« (142)

Wir können also Luhmann zufolge nicht einmal annäherungsweise wissen, was in Zukunft der Fall sein wird: »Über die künftigen Gegenwarten wird die gesellschaftliche Evolution entscheiden, und vermutlich ist es diese Aussicht auf ein indisponibles Schicksal, das jene Hintergrundsorge nährt, die wir in der Risikowahrnehmung und -kommunikation nur recht vordergründig abarbeiten können.« (147) Anders formuliert: »Über die Zukunft entscheidet nicht die Entscheidung, sondern die Evolution.« (Luhmann 1997: 494). Luhmann schließt seinen Text gleichwohl mit folgenden Worten: »Wir gehören nicht mehr zu jenem Geschlecht der tragischen Helden, die, nachträglich jedenfalls, zu erfahren hatten, daß sie sich selbst ihr Schicksal bereitet hatten. Wir wissen es schon vorher.« (147)

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À l’ École – Visions de l’an 2000 (aus dem Jahre 1910, Quelle: http://expositions.bnf.fr)


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4 Kommentare zu “Luhmann und die Beschreibung der Zukunft”

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