Heute ist die Zukunft von gestern VI: Enzensberger vs. Enzensberger

4. März 2012

Im Kursbuch 20 (1970) vermutete Hans Magnus Enzensberger, dass die entfremdenden Effekte der Massenkommunikation einzig durch die Aufhebung der Rollenverteilung von Produzenten und Konsumenten überwunden werden könnten und die neuen elektronischen Medien dabei eine tragende Rolle spielen würden (Auszüge):

»In der heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film [.] nicht der Kommunikation sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu […]. Dieser Sachverhalt lässt sich aber nicht technisch begründen. Im Gegenteil: die elektronische Technik kennt keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger.

Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär. Durch einen einfachen Schaltvorgang kann jeder an ihnen teilnehmen; die Programme selbst sind immateriell und beliebig reproduzierbar. […] Schon aus den angegebenen strukturellen Eigenschaften der neuen Medien geht hervor, dass keines der heute herrschenden Regimes ihr Versprechen einlösen kann. Nur eine freie sozialistische Gesellschaft wird sie produktiv machen können.«

Der Spiegel (18/1970) fand damals folgende anerkennende Worte für Enzensbergers utopischen Aufsatz:

»[..] Enzensberger zielt auf den defätistisch gewordenen Abscheu vor der Bewußtseins-Industrie, jene Berührungsangst gegenüber den ›manipulierenden‹ Medien, die Kulturkonservative und Kulturrevolutionäre merkwürdig einigt: ›Die elektronischen Medien räumen mit jeder Reinheit auf, sie sind prinzipiell schmutzig. Das gehört zu ihrer Produktivkraft.‹ Aber eben diese, so wird gezeigt, ist derart expansiv, daß sie sich jeder zentralisierten Kontrolle immer deutlicher entzieht.

Ob Kabel- oder Kassettenfernsehen, Lernmaschinen, Datenbanken etc. – dieses Kommunikationssystem ist einer hierarchisch verfaßten […] Gesellschaft längst voraus. […] Bis hin zu Enzensbergers Aufsatz ist das Heft voll von defensiver Melancholie, schneidendem Ekel, fruchtlosem Bescheidwissen. […] Riskanter bleibt es, offensive Vorschläge zu machen, nützlicher auch.«

Auch aus Enzensbergers Buch »Ach Europa« (1987) lässt sich stellenweise noch eine ungefilterte Faszination gegenüber den sozialen Möglichkeiten herauslesen, die sich durch die elektronischen Medien ergeben (Kap. »Schwedischer Herbst«):

»Immer neue Ankömmlinge tauchten aus den Tiefen der Tunnelbahn auf. Niemand wusste, woher sie kamen und was sie vorhatten. […] Ein paar kluge Kids hatten entdeckt, dass das öffentliche Telefonnetz eine interessante technische Lücke aufwies: Wer die Nummern einer gewissen Zahl von gesperrten Anschlüssen wählte, konnte mit jedem anderen Teilnehmer sprechen, der das Gleiche tat. Die betreffenden Telefonnummern gingen an den Stockholmer Schulen wie ein Lauffeuer um, und es entstand ein enorme, spontane Konferenzschaltung. Ein neues Massenmedium war geboren: der ›heiße Draht‹. Intelligenter kann man moderne Kommunikationstechniken kaum verwenden.«

Diese Ausführungen rissen wiederum den Spiegel (2009) zu der Überschrift »Enzensberger entdeckte den Flashmob« hin. Am Ende des Artikels deutet sich jedoch schon die mittlerweile abgeklärtere Haltung Enzensbergers zu neuen Medien an:

»›Der Streit um das Urheberrecht ist doch mittlerweile zu einem Glaubenskrieg zwischen Rechteinhabern und Bloggern ausgeartet‹, sagt Enzensberger trocken am Telefon, ›ich mische mich da nicht ein. Ich mag das nicht, wenn auf beiden Seiten derartig verzarzte Positionen dominieren.‹ Doch generell wundere er sich über die Kostenlos-Mentalität einiger Nutzer: ›Keiner würde in den Bäckerladen gehen und fordern: Gib uns mal deine Brötchen – aber kostenlos.‹«

Eine erste gedankliche Kehrtwende unternahm Enzensberger mithin bereits in einem Essay im Spiegel 2/2000, in welchem er auf seinen oben zitierten »Baukasten zu einer Theorie der Medien« wie folgt Bezug nimmt:

»In einem Text von 1970 […] heißt es: ›In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate wie das Fernsehen oder der Film … nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. […] Dieser Sachverhalt lässt sich aber nicht technisch begründen. Im Gegenteil: Die elektronische Technik kennt keinen prinzipiellen Gegensatz von Sender und Empfänger … […] Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär […].

Wohl gesprochen zu einer Zeit, da vom Internet noch keine Rede war. Doch führte der Versuch des Verfassers, die Medienpraxis zu überholen, zu allerhand Erwartungen, die heute naiv anmuten. […] Vielleicht empfiehlt sich 30 Jahre später eine gewisse Nüchternheit.

[…] 99,999 Prozent aller Botschaften sind allenfalls für ihre Empfänger von Interesse, und selbst das ist noch übertrieben. Auch insofern trügt die Prophezeiung von der emanzipatorischen Kraft der neuen Medien. Nicht jedem fällt etwas ein, nicht jeder hat etwas zu sagen […] Die viel beschrieene Interaktivität findet hier ihre Grenze.

[…] Da kein Zentrum vorhanden ist, kann sich jeder einbilden, er befinde sich, wie die Spinne in ihrem Netz, im Mittelpunkt der Welt. Kurzum, das interaktive Medium ist weder Fluch noch Segen; es bildet schlicht und einfach die Geistesverfassung seiner Teilnehmer ab.

[…] Medien spielen eine zentrale Rolle in der menschlichen Existenz, und ihre rasante Entwicklung führt zu Veränderungen, die niemand wirklich abschätzen kann. Medienpropheten, die sich und uns entweder die Apokalypse oder die Erlösung von allen Übeln weissagen, sollten wir jedoch der Lächerlichkeit preisgeben, die sie verdienen. […] Doch, doch, es gibt ein Leben diesseits der digitalen Welt: das einzige, das wir haben.«

Lässt sich »Das digitale Evangelium« (2000) indes tatsächlich in allen Punkten als ein Richtungswechsel lesen? In einem weniger häufig zitierten Teil des »Baukastens« (1970) schrieb Enzensberger:

»Wer sich Emanzipation von einem wie auch immer strukturierten technologischen Gerät oder Gerätesystem verspricht, verfällt einen obskuren Fortschrittsglauben; wer sich einbildet, Medienfreiheit werde sich von selbst einstellen, wenn nur jeder einzelne fleißig sende und empfange, geht einem Liberalismus auf den Leim, der unter zeitgenössischer Schminke mit der verwelkten Vorstellung von einer prästabilierten Harmonie der gesellschaftlichen Interessen hausieren geht.«


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5 Kommentare zu “Heute ist die Zukunft von gestern VI: Enzensberger vs. Enzensberger”

  1. […] Heute ist die Zukunft von gestern VI: Enzensberger vs. Enzensberger: PRÄDIKAT WERTVOLL – Der beste Beitrag seit langem zum Thema Web, Meinung, Blogger, […]

  2. […] auch: »Heute ist die Zukunft von gestern VI: Enzensberger vs. Enzensberger«; »Luhmann vor dem World Wide Web« Ähnliche Artikel:Wiederkehrende Erwartungen an neue Medien […]

  3. […] Magnus Enzensberger hat gestern (ausgerechnet) bei Beckmann (Video) seine in vielen Belangen kritische Position gegenüber den Online-Technologien erneuert. Und natürlich lässt sich Enzensberger […]

  4. […] McLuhans global village) zeigt sich Mumford überdies alles andere als begeistert, hebt wie Enzensberger die vorherrschende einbahnige Nutzung damaliger elektronischer Medien hervor und wünscht sich […]

  5. […] Beitrag von Till Westermeyer verwiesen, der – ähnlich wie hier auch schon mal geschehen (»Enzensberger vs. Enzensberger«) – HMEs aktuelle Thesen mit seinem »Baukasten zu einer Theorie der Medien« (1970) […]