Medien: Heute ist die Zukunft von gestern
5. November 2010Hin und wieder stolpert Manchereiner in der örtlichen Bibliothek über Bücher, die er zwar schon einmal in der Hand, aber nie richtig gelesen hatte. In meinem Fall handelt es sich um die Anthologie »Die Welt in 100 Jahren«, 1910 herausgegeben von Arthur Brehmer. Das Buch ist eine Sammlung von visionären Aufsätzen von Schriftstellern, Journalisten, Politikern, Wissenschaftlern und Künstlern aus dieser Zeit zur mutmaßlichen Lebenswelt um das Jahr 2010 und bietet ganz unterschiedliche Zukunftsvorstellungen zu Politik, Kunst, Literatur, Medizin, Musik, Religion und Gesellschaft (sehr schön auch der Auftaktaufsatz »Das 1000jährige Reich der Maschinen«, der mit Lewis Mumfords Buch »Mythos der Maschine« von 1967 bzw. 1970 in Bezug gebracht werden könnte).
Da derzeit vielerorts über die zukünftige Entwicklungen der (elektronischen) Medien spekuliert wird, lohnt es sich insbesondere in diesem Bereich auf die Prognosen in der Anthologie von 1910 zurückzublicken, also auf die Visionen aus einer Zeit, in der sich nach der Photographie (1829), dem Phonograph (1877), dem Telefon (1875) und dem Film (1895) gerade die drahtlose Telegraphie (1897) etabliert hatte. Und wenn wir Begriffe wie »Taschentelephone«, »Megaphonreceiver«, »Drahtlose Bildertransmission«, »Vibrierende Hörer«, »Zentrale für Telharmonie« und »Telautophonische Verbindung« lesen, dann klingt das zwar noch immer nach Science-Fiction, beschreibt aber Teile der Mediengeographie unserer heutigen Gesellschaft recht treffgenau. Aber der Reihe nach…
- 1910 zum Fernsehen und Hörfunk in 100 Jahren: »Der Hamlet, der in London gespielt wird, wird mittels Fernseher, Fernsprecher und Fernharmonium auf dem Schirm, der die Bühne in Chautauqua ersetzt, reproduziert werden« und Musik wird via »Megaphonreciver« gehört, der auf die » Zentrale der Telharmonie« zugreift (S. 20ff., S. 40ff.).
- 1910 zur Zeitung in 100 Jahren: Gedruckte Zeitungen sollte es 2010 nicht mehr geben. Stattdessen müsste man sich »nur mit der gesprochenen Zeitung in Verbindung zu setzen«, um »alle Tagesneuigkeiten, alle politischen Ereignisse und alle Kurse [zu] erfahren« und »von seinem Zimmer aus den Kriegsereignissen« beiwohnen zu können (S. 38ff.).
- 1910 zum Datennetz in 100 Jahren (vgl. Internet): »Überall ist man in Verbindung mit allem und jedem«. Alle Nachrichten der Welt sollten durch »ein weitangelegtes System drahtloser Telegraphie vermittelt [werden], an welches jedes private Haus […] angeschlossen« ist. Durch die »telautophonische« Verbindung mit Modehäusern »werden alle die Bilder in ihren natürlichen Farben zu sehen sein« und der Betrachter wird sich die Kleider in gewünschtem Maße liefern lassen können (S. 34ff., S. 105ff.).
- 1910 zur drahtlosen Telefonie in 100 Jahren: »Es wird jedermann sein eigenes Taschentelephon haben, durch welches er sich, mit wem er will, wird verbinden können, einerlei, wo er auch ist«. »Die Bürger dieser Zeit werden überall mit ihren drahtlosen Empfängern herumgehen, der irgendwo, im Hut oder anderswo angebracht sein wird«. Nicht nur Monarchen und Direktoren »werden ihre Geschäfte erledigen können, wo immer sie sind« (S. 35ff.).
Natürlich lebt eine solche Auflistung von in ihrer Vorhersagekraft teilweise recht treffsicheren Visionen sowohl von der Auswahl des richtigen Buches aus dieser Zeit als auch von der Betonung der entsprechenden Textpassagen. Nichtsdestotrotz erscheint die Deckungsgleichheit zwischen 1910er-Visionen und 2010er-Medienlandschaft in vielen Fällen erstaunlich. Nicht vorstellen konnten sich die damaligen Visionäre jedoch, dass 2010 der Hut als modisches Kleidungsstück auf der Straße nicht mehr gefragt sein würde…