Der Band möchte »die Digitalisierung als ›systemische Transformation‹ beschreiben und aufzeigen, inwiefern diese alle institutionellen Systeme der Arbeitsgesellschaft grundlegend und nachhaltig verändern kann« (28). »Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung stellen die hierfür identifizierten allgemeinen Bewegungsdynamiken dar […], die eine Multi-Dimensionalität des Transformationsprozesses sowie die historisch-soziale Vorbereitung und Einordnung soziotechnischen Wandels berücksichtigen« (564):
»Während die Durchdringung der sozialen Wirklichkeit neue Formen und Intensitäten des Zugriffs auf soziale Prozesse, Menschen und ihre Handlungen sowie eine digitale Allgegenwärtigkeit betont, hebt die Verfügbarmachung die Möglichkeiten des Zugriffs (Zugang, Eigentum, Transparenz, Kontrolle) auf Ressourcen aller Art (Infrastrukturen, Informationen, Dinge, Arbeitskräfte) hervor. Die Verselbstständigung wiederum zielt auf die Tatsache, dass sich durch Digitalisierung Entitäten aus bisherigen Verkoppelungen lösen und unabhängig voneinander werden können. Entscheidend für ein umfassendes Verständnis der digitalen Transformation ist es, diese drei Bewegungsdynamiken nicht als rein technikgetriebene Entwicklungen zu begreifen. Vielmehr werden sie auf unterschiedlichen Ebenen im Zusammenwirken technischer und sozialer Ermöglichung und Begrenzung diskursiv und sozial ausgehandelt und gesellschaftlich bewältigt (vgl. Schrape 2021; Pfeiffer und Schrape 2023). Auch handelt es sich keineswegs um lineare Prozesse, sondern sind mit vielfältigen und auch digitalisierungsspezifisch neuen Widersprüchen und gegenläufigen Dynamiken verbunden.«
Die ersten Beiträge des Handbuchs Medientheorien im 21. Jahrhundert (2024, hrsg. von Christoph Ernst, Katerina Krtilova, Jens Schröter, Andreas Sudmann) werden nun sukzessive als Live Reference Work Entry auf SpringerLink veröffentlicht, darunter auch der Übersichtstext »Theorien der digitalen Gesellschaft«. Aus der Einleitung:
In der gegenwärtigen Phase des offenkundigen Umbruchs, in der neue Medien- und Technikformen schrittweise sämtliche Teilbereiche der Gesellschaft durchdringen, werden medientechnische Strukturen, ihre Entwicklung und ihren Wirkungen zu einem sichtbaren Gegenstand öffentlicher Diskussion, bevor diese mit der Zeit zu einer Selbstverständlichkeit in der Lebenswelt avancieren. Dabei kommt ein Paradoxon zum Tragen, das bereits Marshall McLuhan (1968, S. 364) mit Blick auf den Medienwandel im 20. Jahrhundert aufgezeigt hat: Einerseits ist »jede Generation, die am Rande einer gewaltigen Wandlung steht, […] von der Kraft der neuen Technik hypnotisiert« und daher kaum in der Lage, ihre Effekte mit kritischer Distanz zu reflektieren. Andererseits birgt jeder Umbruch einen Moment der Klarheit darüber, wie grundlegend die Gesellschaft durch Medien bzw. Technik an sich geprägt ist.
Eine abgeschlossene Theorie der Digitalisierung kann insofern noch gar nicht vorliegen – schon alleine, da sich auch Gesellschaftsforschende dem Strudel der Faszination und Nervosität um einen andauernden soziotechnischen Umbruch nicht entziehen können. Nichtsdestominder wurden, auch angesichts des wachsenden öffentlichen Orientierungsbedarfs, in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Soziologie vielfältige Theorien zur »digitalen Gesellschaft« mit gesellschaftsumspannenden Erklärungsanspruch formuliert, während in der englischsprachigen Theoriebildung gegenstandsbezogene Perspektiven vorherrschen.
Der vorliegende Beitrag gibt zunächst einen Überblick über einschlägige system- und kulturtheoretische Theorien der digitalen Gesellschaft, die den sozialwissenschaftlichen Diskurs geprägt haben. Nach einer kritischen Würdigung dieser Gesellschaftsentwürfe werden anschließend mit einem Fokus auf den Wandel der Öffentlichkeit und der Arbeitswelt spezifischer zugeschnittene Ansätze zusammengeführt, die auf eingegrenzte Aspekte der digitalen Transformation fokussieren. Abschließend werden die aktuellen Entwicklungen mit der langfristigen Koevolution von Medien und Gesellschaft in Beziehung gesetzt.
Inzwischen sind fast alle Beiträge des 62. Sonderhefts der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) ›online first‹ in Open-Access-Form erschienen. Die Beiträge des Sonderhefts mit Titel »Internet, Big Data und digitale Plattformen: Politische Ökonomie – Kommunikation – Regulierung« (hg. v. U. Dolata & J.-F. Schrape) befassen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln – empirisch, theoretisch und historisch rekonstruierend – mit den organisationalen, sozioökonomischen und regulativen Eigenheiten des plattformbasierten Internets, analysieren dessen Auswirkungen auf die politische Kommunikation und Öffentlichkeit, untersuchen die Lebenszyklen und Ausprägungen von vorderhand offen strukturierten Online-Gemeinschaften und diskutieren zentrale methodologische Herausforderungen für die empirische Sozialforschung, die mit dem rasant anwachsenden Bestand an (oft in privatwirtschaftlichen Zusammenhängen generierten) digitalen Daten verbunden sind (vgl. Einführung in das Heft).
Themenfeld 1: Politische Ökonomie und Organisation
Das heutige Internet wird durch privatwirtschaftlich betriebene Plattformen der unterschiedlichsten Art geprägt. Dieser Beitrag fragt danach, wie sich die kommerziellen Kommunikations‑, Markt‑, Konsum- und Serviceplattformen als distinkte Unternehmensform fassen lassen. Dazu wird eine basale Unterscheidung zwischen (1) den plattformbetreibenden Unternehmen als organisierenden und strukturierenden Kernen und (2) den ihnen gehörenden Plattformen als mehr oder minder ausgreifenden sozialen Handlungsräumen vorgenommen. Während sich Plattformunternehmen als Organisationen im geradezu klassischen Sinne darstellen lassen, konstituieren die von ihnen betriebenen Internetplattformen soziotechnisch strukturierte Sozial‑, Markt‑, Konsum- oder Serviceräume, in denen soziale Akteure zwar auf der Grundlage detailliert ausgestalteter und technisch eingefasster Regeln, aber zugleich variantenreich und eigenwillig interagieren. Die für die Plattform-Architekturen charakteristischen Koordinations‑, Kontroll- und Verwertungsmechanismen zeichnen sich durch eine starke hierarchische Ausrichtung aus, in die Elemente der Kooptation und des orchestrierten Mitwirkens der Nutzer eingelagert sind. Die Plattformunternehmen haben in dieser hybriden Konstellation ein hohes Maß an strukturgebender, regelsetzender und kontrollierender Macht – und verfügen überdies über den exklusiven Zugriff auf das dort produzierte Rohmaterial an Daten. Diese Macht äußert sich auch, aber längst nicht ausschließlich als rigide Kontrolle, als direktiver Zwang oder einklagbare Rechenschaftspflicht, sondern entfaltet sich für die große Zahl regelkonformer Nutzer weitgehend geräuschlos unter der Oberfläche einer (vermeintlichen) Offenheit, die die Plattformen als Markt- und Sozialräume auch auszeichnet.