EPIC 2015: Vision und Realität

19. Juli 2011

»Das Internet macht vielleicht doch nicht dumm« überschreibt Die Zeit einen Artikel zu den Ergebnissen einer aktuellen Studie der Columbia UniversityGoogle Effects on Memory«): In der Untersuchung stellte sich heraus, dass sich die Probanden »besser an den Ort erinnern konnten, an dem die Information zu finden ist, als an die Information selbst«. Daraus leiten die Autoren (Sparrow/Wegener) die Vermutung ab, dass das Web als externes Gedächtnis dienen kann.

Ob das Web als Erweiterung des Gehirns wirkt, hängt allerdings wesentlich auch davon ab, über welche Bewertungs- und Selektionskompetenzen der jeweilige Onliner verfügt bzw. aus welchen Gründen heraus er ins Netz geht. Oder um es in den Worten eines netzbekannten fiktiven Rückblick-Kurzfilms zu sagen:

»Bestenfalls ist [das Netz] für seine klügsten Nutzer einer Zusammenfassung der Welt, tiefer umfassender und nuancierter als alles vorher Erhältliche, aber Schlimmstenfalls ist [es] für allzu viele Menschen lediglich eine Ansammlung von Belanglosigkeiten […].«

Dieser Ausschnitt stammt aus der imaginären filmischen Rückschau EPIC 2015, der als Projekt eines ebenfalls erfundenen Museum of Media History die Geschichte des Internet von 1989 bis 2015 nachzeichnet und im Jahr 2004 veröffentlicht wurde. Er beschreibt, wie sich das Netz unter der Vorherrschaft einer damals angenommenen Allianz von Google und Amazon zu einem automatisierten Evolving Personalized Information System entwickelt, das »für jeden ein Content-Paket zusammen[stellt], das seine Vorlieben, seine Konsumgewohnheiten, seine Interessen, seine demografischen Faktoren und seine sozialen Bindungen nutzt« – ein individuelles externes Gedächtnis also, das alle gewünschten Informationen auf dem silbernen Tablet(t) serviert:

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Splitter: Die Umwelt transparent gemacht

9. Dezember 2010

Die Welt ist komplex – und ein Stück weit Orientierung darin bietet Wikihood, als iPhone-App schon seit 2008 in ständig verbesserten Versionen verfügbar und mehrfach preisgekrönt: Zuletzt auf der iPhone Developer Conference als bestes App in der Kategorie “Entwicklung”. Seit dieser Woche allerdings können auch Onliner, die kein iPhone oder iPad besitzen, auf Wikihood zugreifen und zwar in der Special Edition Wikihood World Browser – für Nutzer des Google Chrome-Browsers als Chrome Web App und für Apple-Safari-Nutzer auch als klassischer Webdienst (weitere Browser werden wohl folgen).

Das Prinzip der kostenfreien Anwendung: Die Wikipedia zu einem standortbezogenen Dienst (local based service) zu veredeln und dem jeweiligen Nutzer die interessanten Einträge zu seiner unmittelbaren Umgebung zu liefern. Auf dem Smartphone funktioniert das durch die integrierten GPS-Dienste und im Browser des Notbooks oder Desktops durch die Lokalisierung des genutzten WLAN-Netzes. Der Wikihood World Browser präsentiert sich als eine gelungene Verbindung aus Wikipedia sowie Google Maps und wird auf diese Weise zu einem idealen Reiseführer, der auf der ganzen Welt seinen Dienst tut. Oder schlicht zu einem idealen Werkzeug für Neugierige wie mich, die Interessantes und Kurioses in ihrem Umfeld entdecken wollen.

Wikihood World Browser


Street View in der Global Village

22. August 2010

Mit Rekurs auf Luhmanns Informationsbegriff weist Jörg Räwel in Telepolis auf die Paradoxien hin, die mit einem Einspruch und der damit verknüpften Unkenntlichmachung der Gebäude bei Google Street View verbunden sind:

“Da von einem vergleichsweise kleinen Personenkreis auszugehen ist, der Häuserfassaden oder Grundstücke verblenden lässt, werden die – also vereinzelten – Verpixelungen beim Betrachten der Strassenpanoramen gewissermassen ins Auge springen. Es sind also gerade durch die Löschung verursachte Unterschiede (zu unverpixelten Immobilien), die informative Unterschiede erzeugen. Es darf dann mit Blick auf die hervorstechenden “Löschungen” vermutet werden: Der Bewohner dieses Hauses/Grundstücks ist sicher ein Googlekritiker, scheint von Datenmissbrauchsphobie befallen zu sein, hat was zu verbergen (Gibt es wohl Wertsachen in Haus?), scheint auf seinem Grundstück ein ziemliches Chaos zu haben […]. Entgegen naiver Überzeugung und dann paradoxer Weise werden mit dem Löschen (Verblenden, Verpixeln) von Daten keine Daten vernichtet, sondern werden vielmehr neue Daten erzeugt.”

Diese Beschreibungen gelten aber nicht nur für Abbildungen im digitalen Nexus, sondern ebenso in der Offline-Welt: Sobald ein Hausbesitzer eine große Mauer um sein Anwesen baut, provoziert er Neugierde und Aufmerksamkeit, d.h. er steigert die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sein Haus für kriminelle Machenschaften interessant wird, obwohl oder gerade weil er etwas verbirgt. Dies gilt zumindest in jeder durchschnittlichen deutschen Stadt.

In Windhoek (Namibia) hingegen ist beispielsweise eine Abschottung des Eigenheims mit entsprechender Sicherheitsanlage die Normalität (sobald man sich ein Haus leisten kann). In den entsprechenden Quartieren würde sich ein Hausbesitzer unterscheiden (und entsprechende Aufmerksamkeit erregen), der keine Sichtschutz- und Sicherheitsvorkehrungen trifft.

Wenn es also nicht üblich ist, die Bilder der Aussenfassaden seiner Wohnung oder seines Hauses in Street View zu verschlüsseln, fällt jede Verpixelung natürlich auf. Eine zu diskutierende Lösung wäre es folglich, zunächst einmal alle Privat-Immobilien zu Verpixeln und auf Anfrage “klar” zu schalten.

Auf der anderen Seite deutet schon das Wort “Fassade” auf den Denkfehler hin, der Street View-Kritikern unterläuft: Die Aussenhaut eines Gebäudes ist ja geradezu dazu gemacht, gesehen zu werden. Und dass mannigfaltige Spielarten angewendet werden, um sich diesbezüglich bewusst von seinen Nachbarn zu unterscheiden, lässt sich etwa in den Stuttgarter Wohnbieten auf Halbhöhenlage bestens beobachten. Warum sollten diese Fassaden offline sichtbar sein und Online verpixelt werden?

Einerseits profitiert jeder Online-Nutzer von den effizienteren Kommunikationsweisen und den damit verbundenen schier unendlichen neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die scheinbar so leicht und schnell erreichbar sind, wie früher die Kneipe im heimischen Dorf. Der Begriff “Global Village” trifft des Pudels Kern also zumindest teilweise. Andererseits aber sollen in dieser globalen digitalen Stadt nun die Fassaden der Häuser verhüllt werden?

Wer keine Daten zu seiner Person produzieren bzw. freigeben möchte, darf sich eigentlich kaum im World Wide Web bewegen, da jeder Mausklick protokolliert werden kann und viele Dienste nur sinnvoll nutzbar werden, wenn zumindest irgendeine digitale Identität angegeben wird. Wer an der vordigitalen Öffentlichkeit partizipieren wollte, wie sie etwa Sennett in ihrer Urform für das Ancien Régime beschrieben hat, musste – wie jeder Internetnutzer – heute damit leben, dass seine Mitmenschen registrieren, in welchen Gegenden er sich bewegt und was er in welchen Kneipen oder Cafè-Häusern macht. Wer in der Stadt bekannt war, musste damit rechnen, dass einzelne Mitmenschen hin und wieder wissen wollten, wie er denn so wohnt.

Vielmehr passiert heute auch nicht im Kontext von Street View: Wer sich unterscheidet (durch sein Verhalten, seine finanzielle Situation, die Fassade seines Hauses, seine Attitüde etc.) wird interessant für etwaige Beobachter. Wer vor der sozialen Wirklichkeitswerdung des Internets durch eine relevante Unterscheidung (z.B. durch ein protziges Haus) für das heimische Verbrechen interessant wurde, wird heute via Street View für international agierende kriminelle Organisationen interessant und muss ggf. entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen.

So gesehen sind die Veränderungen durch Google Street View also nicht gravierend: Die Digitalmachung der Gebäudefassaden ist eine nahe liegende Konsequenz der kommunikationstechnischen Global Village, wobei McLuhan selbst später das Bild eines “globalen Theaters” präferierte. Ein drastischer Unterschied zu den öffentlichen Fassaden in der klassischen Stadt existiert dann aber doch: Bei entsprechendem Interesse kann sich jeder Spaziergänger die Gebäude und deren Fassaden auf gleiche eingehende Weise betrachten. Im Falle des privaten Unternehmens Google wissen wir hingegen nicht, welche Daten neben den Veröffentlichten noch in den Händen des Anbieters liegen.