Splitter: Staatsschuldenkrise – systemtheoretisch
13. Dezember 2011Mit Rekurs auf Luhmanns Wirtschaft der Gesellschaft hat Jörg Räwel unter Titel »Das Finanzsystem als Parasit des Wirtschaftssystems« einen Artikel zur vieldiskutierten ›Schuldenkrise‹ verfasst, der vor Augen führt, dass sich durch eine differenzierte systemtheoretische Beobachtung durchaus in pointierter Weise der berühmte Finger auf einige ›Wunden der Gesellschaft‹ legen lässt.
Zunächst referiert der Artikel Luhmanns grundsätzliche Sicht auf das Wirtschaftssystem (elementare Operationen: Zahlungen) und kommt dann auf die veränderte Rolle des Finanz(sub)systems zu sprechen:
»[A]ls sich wirtschaftliche Aktivität vorrangig auf Nationalstaaten bezog […] [kam] dem Finanzsystem [.] die Aufgabe zu, die profitable Verwertung der Verschuldung von Unternehmen zu organisieren, deren Finanzierung und Refinanzierung zu sichern. Sowohl der Staat als auch Gewerkschaften verfügten in einer primär nationalstaatlich organisierten Wirtschaft noch über genügend Macht bzw. Einflussmöglichkeiten, um für eine ausreichende Besteuerung bzw. Entlohnung weitgehend unabhängig von Verschuldungen am Finanzmarkt zu sorgen. Es waren dies die goldenen Zeiten sogenannter ›Sozialer Marktwirtschaft‹.«
Wie Räwel weiter ausführt, kam es im Zuge der Globalisierung allerdings zu »einer effektiven Marginalisierung der Faktoren Steuern und Arbeit im Sinne neoliberaler Wirtschaftstheorie« und die »Konkurrenz zwischen nationalstaatlichen Wirtschaftsstandorten, steuerliche Bedingungen und Lohnquoten betreffend, konnte zu internationalem, effektiv wirksamem Kostenminimierungsdruck führen« (was sich z.B. in der Senkung der Körperschafts-, Einkommens- und Gewinnsteuern widerspiegelt). Die weitreichenden Folgen dieser Entwicklung fasst der genannte Artikel wie folgt zusammen:
»Schließlich nahm der Steuerausfälle kompensierende Kapitalbedarf von Staaten im internationalen Steuerwettbewerb stetig zu. Es entstand eine letztlich durch Steuergelder induzierte Kapitalschwemme, die zu einer Vielzahl von Investitionsblasen führte […]. Staaten erfahren angesichts der Globalisierung einen wirtschaftspolitischen Machtverlust, der zu einer Reduktion ihnen zustehender Steuereinnahmen führt. Sich an den internationalen Finanzmärkten verschuldend haben sie zudem selbst für die Kompensation dieser Ausfälle zu sorgen. Zahlungsverpflichtungen werden […] also nicht nur abgewälzt, sondern durch das Finanzsystem im Schuldendienst der Nationalstaaten sogar profitabel verwertet!
[…] Es wird deutlich, warum gegenwärtig Rettungspolitik scheitern muss. In der Konstruktion immer neuer ›Rettungsschirme‹ durch staatlich verbürgte Zahlungsversprechen wird lediglich in extremer Weise die Wirtschaftspolitik weiter verfolgt, die erst die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise ermöglicht hat. Staaten übernehmen Zahlungsverpflichtungen des Wirtschaftssystems, die vom Finanzsystem profitabel verwertet werden und Staatsverschuldungen in immer neue Höhen treiben. […] Die perverse Dynamik dieses Zusammenhangs wird in der oft zu hörenden Feststellung, dass derart Gewinne privatisiert, Verluste sozialisiert werden, tatsächlich nur unzulänglich erfasst.«
Und aus diesen systemtheoretischen Beobachtungen leitet Räwel zum Abschluss des Artikels eine wirtschaftspolitische Forderung ab, die den meisten Weltbeobachtern, die sich politisch links der Mitte verorten, sympathisch erscheinen dürfte (andere Beobachter werden das vermutlich anders ›sehen‹):
»Konventionelle Wirtschaftstheorie hat zu erkennen, dass Großzügigkeit in Sachen Steuern und Arbeit nicht unprofitabel ist, sondern Rentabilität und Profitabilität – im schlichten Funktionieren des Wirtschaftssystems – vorausgesetzt ist. […] Die Ausbeutung von Arbeitenden mit Blick auf ihre Löhne und die Ausbeutung von Staaten hinsichtlich Steuern lohnt sich nicht; sie ist langfristig unprofitabel.«