Plattformmacht
21. Januar 2025Künstliche Intelligenz ist ein zentrales Thema der Zukunft; der Einfluss der großen Social-Media-Plattformen und der dahinter stehenden Tech-Konzerne auf Politik, Öffentlichkeit und Alltagskommunikation (wie auch auf unser Verständnis von Wirklichkeit) ist schon lange eine der drängenden Herausforderungen der Gegenwart, auf die bislang – trotz Digital Markets Act und Digital Service Act in der EU – noch keine hinreichenden Antworten gefunden worden sind.
Mehr noch: Tech-Mogule wie Mark Zuckerberg (Meta) oder Elon Musk (X) verfügen nicht nur innerhalb ihrer Unternehmen über die entsprechende Machtfülle, um fundamentale Regulationsmuster auf den Plattformen nach ihren persönlichen Prioritäten umzugestalten, sondern inzwischen auch außerhalb ihrer Konzerne über die politische Kraft und die finanziellen Mittel, um ihre Interessen durchzusetzen – etwa mit Blick auf die staatliche Anwendung und Regulierung von KI (The Verge titelte in diesem Sinne jüngst: »Welcome to the era of gangster tech regulation. Our tech overlords all have problems, and they want to buy the solutions«).

Ulrich Dolata und ich haben uns in den letzten Jahren regelmäßig mit dem Einfluss digitaler Plattformen bzw. der dahinterstehenden Konzerne auf gesellschaftliche Koordinations- und Kommmunikationsprozesse beschäftigt (z.B. in Innovation, KZfSS) und die Machtdifferenziale zwischen den betreibenden Technologieunternehmen und den vielfältigen sozialen Akteuren herausgearbeitet, die sich in plattformbasierten Kommunikations- und Handlungsräumen bewegen – so zuletzt in dem Suhrkamp-Band »Theorien des digitalen Kapitalismus« (344–363). Einige Ausschnitte:
»[…] Alle Internetplattformen lassen sich zunächst als computergestützte, softwarebasierte, programmierbare und algorithmisch strukturierende technologische Infrastrukturen begreifen, über die Informationen ausgetauscht, Kommunikation organisiert, Arbeit und Märkte koordiniert, Dienstleistungen angeboten oder digitale und materielle Produkte vertrieben werden. Gleichzeitig zeichnen sich sämtliche Internetplattformen durch eine handlungsorientierende institutionelle Grundlage aus, die geprägt wird durch soziale Regeln und Normen, die die plattformbetreibenden Unternehmen formulieren und festlegen – etwa als Geschäftsbedingungen und Community Standards – sowie durch deren Einschreibung in die technischen Grundlagen der Plattformen, etwa in Gestalt von Default Settings, technischen Features und algorithmischen Strukturierungs-, Rating-, Ranking- und Überwachungssystemen.
[…] Am weitesten ausgelegt sind die großen Social-Media-Plattformen, die im Falle von Facebook, Instagram oder YouTube jeweils integraler Bestandteil der vernetzten soziotechnischen Ökosysteme führender Internetkonzerne sind. Typisch für diese Plattformen sind ausgesprochen niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten und plurale Akteurfigurationen: Sie sind grundsätzlich offen für die unterschiedlichsten kommerziellen und nichtkommerziellen Aktivitäten so gut wie aller sozialen Akteure, die die hochentwickelten Gesellschaften zu bieten haben. Sie lassen sich dementsprechend als Sozialräume in einem sehr inklusiven Sinn bezeichnen: Dort werden basale Prozesse gesellschaftlichen Austauschs im Internet organisiert und über technisch vermittelte Regelwerke und Strukturierungs-, Selektions-, Überwachungs- und Sanktionsmechanismen werden wesentliche soziale Ordnungs- und Regulierungsentscheidungen getroffen. Das ist ein vollkommen neues Phänomen: Einzelne Unternehmen konstituieren mit ihren Plattformen nicht weniger als die strukturellen und institutionellen Grundlagen einer privatwirtschaftlich verfassten Sozialität im Web und übernehmen dabei zum Teil quasihoheitliche Aufgaben der Regelsetzung und -durchsetzung – ohne jede demokratische Legitimation und in internationalem Maßstab.
[…] Zusammengenommen zeichnen sich die für internetbasierte Plattform-Architekturen charakteristischen Koordinations-, Kontroll- und Verwertungsmechanismen durch eine bemerkenswert starke hierarchische Ausrichtung aus, in die Elemente der Kooptation und des orchestrierten Mitwirkens der Teilnehmenden eingelagert sind. Die Plattformunternehmen haben in dieser hybriden Konstellation ein hohes Maß an strukturgebender, regelsetzender und kontrollierender Macht und verfügen überdies über den exklusiven Zugriff auf das dort produzierte Rohmaterial an Daten. Diese Macht äußert sich in vielen Fällen – denkt man etwa an die Stellung von Arbeitskräften im Kontext von Fahr- und Lieferdiensten –, aber längst nicht immer als rigide Kontrolle, als direktiver Zwang oder einklagbare Rechenschaftspflicht, sondern entfaltet sich für die große Zahl regelkonformer Nutzer:innen kaum spürbar unter der Oberfläche einer (vermeintlichen) Offenheit, die die Plattformen als Markt- und Sozialräume auch auszeichnet.
[…] Das alles heißt natürlich weder, dass die skizzierten Koordinations- und Kontrollaktivitäten die Handlungen anderer sozialer Akteure determinieren würden, noch, dass die Plattformunternehmen mit ihren Plattformen außerhalb der Gesellschaft stünden und entkoppelt von kollektivem Nutzungsverhalten, öffentlichen Diskursen und Meinungslagen, politischen Interventionen oder den Interessen anderer Wirtschaftsakteure agieren könnten. Gestaltungsmacht mag wie in diesem Fall sehr asymmetrisch verteilt sein – sie ist aber nie absolut, sondern immer Ausdruck komplexer, oft umkämpfter und nicht selten volatiler sozialer Kräfteverhältnisse, aus denen die Einen mehr herausholen können als die Anderen.
[…] Die politischen Effekte, die zivilgesellschaftliche Interventionen erzielen können, sind insofern nicht zu unterschätzen: Sie können, wenn sie mit entsprechendem Druck vorgebracht werden und auf große gesellschaftliche Akzeptanz stoßen, schnelle und zum Teil substanzielle Anpassungsreaktionen bei Plattformunternehmen auslösen – allerdings ohne dass dadurch deren Ordnungsfunktionen und Regelungshoheit infrage stünden. Auf zivilgesellschaftlichen Druck können Plattformunternehmen im Modus der Freiwilligkeit reagieren, entlang ihrer selbst gesetzten Maßstäbe und dann, wenn es ihnen probat erscheint. Das bleibt unverbindlich und hat mit einer Regulierung von Plattformen im engeren Sinne nichts zu tun, die demgegenüber ganz wesentlich auf der Durchsetzung demokratisch entwickelter und rechtlich verbindlicher öffentlicher Regeln basieren müsste, die von den Plattformbetreibern zwingend einzuhalten wären.
[…] Parallel zur Zunahme zivilgesellschaftlicher Interventionen haben sich – dies ist die andere Möglichkeit der Einflussnahme – ebenfalls seit Mitte der 2010er-Jahre die staatlichen Bemühungen um eine solche politische Regulierung und Kontrolle der großen Plattformen und ihrer Betreiber intensiviert. […] Die Reichweite dieser politischen Interventionen ist freilich nach wie vor begrenzt. Viele staatliche Eingriffe in die soziale Regelungshoheit der Plattformbetreiber haben bislang paradoxerweise deren Regulierungsmacht eher gestärkt, indem sie eigentlich hoheitliche Funktionen der Rechtsprechung und -durchsetzung auf privatwirtschaftliche Akteure übertragen und diese Verlagerung mit politischer Legitimation versehen haben.
[…] Weiterreichende Vorschläge, deren Umsetzung der staatlichen Seite mehr Gewicht in dieser nach wie vor sehr ungleichen privat-staatlichen Regulierungskonstellation verleihen könnte, sind zwar in der Diskussion, werden aber politisch bislang nicht oder nur halbherzig verfolgt. Dazu zählen zum einen Überlegungen, die über eine rigidere Kontrolle marktbeherrschender Stellungen deutlich hinausgehen und eine radikale Entflechtung der weitläufig miteinander vernetzten Plattformen der großen IT-Konzerne einfordern: Meta könnte in Facebook, Instagram und WhatsApp aufgespalten, YouTube von der Alphabet-Holding getrennt oder der Amazon Marketplace aus dem Amazon-Konzern ausgelagert werden. Und dazu zählt zum anderen die Idee der Einrichtung einer öffentlichen Aufsichts- und Regulierungsagentur im Rahmen der EU, die als demokratisch legitimierte und kontrollierte Alternative zu konzerneigenen Aufsichtsgremien fungieren könnte und mit entsprechenden Informations-, Kontroll- und Sanktionsrechten ausgestattet werden müsste.
Auch ein solcher Vorschlag liefe allerdings nicht auf eine gleichberechtigte privat-staatliche Ko-Regulierung von Plattformen hinaus – schon allein aufgrund der extremen Informations- und Wissensasymmetrien zwischen den Beteiligten: Politische Regulierungsinstanzen wissen grundsätzlich weit weniger über die weitläufigen soziotechnischen Systemzusammenhänge, die sie regulativ einhegen sollen, als diejenigen, die diese Systeme (weiter-)entwickeln. […]«