Betreff: Luhmann und Neoliberalismus
22. Dezember 2014Das Verhältnis zwischen System- und Akteurtheoretikern ist gelinde gesagt recht angespannt. Ein Beispiel hierfür findet sich in der mit offenem Visier ausgefochtene Fehde zwischen Renate Mayntz und Niklas Luhmann: Während Mayntz (1997: 199) der Systemtheorie vorwarf, soziale Systeme »nach dem Prinzip der Dame ohne Unterleib […] auf bloße Kommunikationen« zu verkürzen und »damit ihres realen Substrats und aller faktischen Antriebskräfte« zu berauben, unterstrich Luhmann (2002: 255f.) die Notwendigkeit zur Differenzierung: »In Wirklichkeit ist es noch schlimmer, denn […] der ganze Leib ist überhaupt nicht Teil des sozialen Systems«. Gesellschaft besteht aus seiner Sicht einzig in Kommunikation, weshalb sich sein Ansatz auf die Evolution sozialer Sinnsysteme konzentriert.
Trotz vereinzelter Vermittlungsversuche, die u.a. darauf abheben, dass sich mit unterschiedlichen Paradigmen eben jeweils andere Aspekte ›gesellschaftlicher Wirklichkeit‹ ausleuchten lassen, stehen sich die systemtheoretische und akteurzentrierte Ansätze im soziologischen Alltagsgeschäft meist disparat gegenüber und schon der punktuelle Rückgriff auf rivalisierende Begrifflichkeiten ruft in den jeweiligen Zirkeln »instantanes Desinteresse« (Schimank 2009: 202) hervor.
London, East India Dock Rd (Quelle: jordi.martorell)
Eine neue Qualität bergen indes zwei aktuelle Aussagen von Wolfgang Streeck (bis 10/2014 Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung), der Luhmanns Theorie expressis verbis als Steigbügelhalter für eine politisch desinteressierte und unkritische deutschsprachige Soziologie beschreibt, die ihre Augen allzu lange gegenüber den Folgen der wirtschaftlichen Liberalisierung verschlossen hätte:
»[…] so haben mich die Ereignisse von 2008 in meiner schon lange gehegten […] Auffassung bestätigt, dass Luhmanns funktionalistischer Relativismus […] für die Soziologie ein Desaster war und ist, weil er suggeriert, dass für eine Theorie der Entwicklung moderner Gesellschaften alle Wirklichkeitsbereiche gleich wichtig sind. In der Praxis hat dies weiten Teilen der Soziologie in Deutschland ermöglicht, sich als Disziplin ein striktes Irrelevanz- und damit Langweiligkeitsgebot aufzuerlegen und durch dessen Einhaltung den finanzierungsschädlichen Verdacht aus den 1970er- und 1980er-Jahren auszuräumen, es handle sich bei ihr um so etwas wie ›kritische Theorie‹ oder gar den Versuch einer aufklärenden Erhellung von Markt-, Macht- und Verteilungsverhältnissen im gegenwärtigen Kapitalismus.« (Streeck 2014: 157)
»Während in Deutschland die Sozialwissenschaften infolge der Luhmann’schen Systemtheorie allen Steuerungsambitionen abschwor, nahm von ihnen unbemerkt eines der radikalsten Steuerungsprojekte der Geschichte seinen erfolgreichen Lauf: die weltweite Liberalisierung des demokratischen Kapitalismus.« (Streeck zitiert nach Haffert/Mertens 2014)
Nun lässt sich durchaus davon ausgehen, dass Streeck Luhmanns Theorie (im Gegensatz zu einigen anderen Kritikern) tatsächlich gelesen hat, den tief verankerten Steuerungsoptimismus der 1970er und frühen 1980er Jahre ebenso wie Luhmann als naiv markieren würde und wohl auch den Satz unterschreiben könnte, dass die Soziologie letztlich einzig neue Beobachtungsmöglichkeiten freisetzen kann, »die nicht an die im Alltag […] eingeübten Beschränkungen gebunden sind« (Luhmann 1993: 24) – denn alles andere wäre blasiert und vermessen.
Vermutlich aus Pointierungsgründen konfrontiert Streeck seine Leser allerdings mit einer kastrierten, bewusst eindimensional formatierten Lesart der Theorie sozialer Systeme und stilisiert Niklas Luhmann dabei implizit zu einem neoliberalen Denker avant la lettre – was weder seiner Haltung zur Soziologie als Wissenschaft (dazu: »Was ist die Markenidentität der Soziologie?«) noch seinen Überlegungen zur Wirtschaft als Funktionssystem entspricht.
Zwar fasst Luhmann (1984: 308) die ›Wirtschaft‹ als operativ geschlossenes kommunikatives Sinnsystem (wohlgemerkt: nicht als ein Konglomerat aus Organisationen oder Akteuren in diesem Bereich), das sich konsequent am Kommunikationsmedium ›Geld‹ bzw. am Code ›Zahlung/Nicht-Zahlung‹ ausrichtet:
»Jede Gesellschaft hat wirtschaftliche Probleme zu lösen. In der modernen Gesellschaft geschieht dies mit Hilfe eines ausdifferenzierten Wirtschaftssystems. Trotz aller Interdependenzen und kausalen Verknüpfungen, die bei funktionaler Differenzierung der Gesellschaft noch zunehmen, operiert das Wirtschaftssystem als ein ›autopoietisches‹ Subsystem unter funktionaler Autonomie. […] Es besteht aus Zahlungen, die aufgrund von Zahlungen möglich sind und weitere Zahlungen ermöglichen. […] Zugleich ist das Wirtschaftssystem aber auch ein offenes System, da seine Operationen auf Bedürfnisse seiner gesellschaftlichen und seiner menschlichen Umwelt abgestimmt sind […].«
Mit dieser Beschreibung geht jedoch keineswegs ein sozialtheoretischer ›Persilschein‹ einher. Ganz im Gegenteil diagnostiziert Luhmann (1997, Kap. 4, XI) explizit ein »Versagen des Weltwirtschaftssystems vor dem Problem der gerechten Verteilung des erreichten Wohlstandes« und listet in »Die Wirtschaft der Gesellschaft« (1994: 169) eine Vielzahl an Folgeproblemen auf, die mit der »eigentümlichen Wachstumsdynamik der modernen Gesellschaft« und der »Kanalisierung dieses Wachstums durch die einzelnen Funktionssysteme« – auch und insbesondere der Wirtschaft – einhergehen und nicht nur die »physisch-chemisch-organische Umwelt«, sondern auch die »psychische Umwelt des Gesellschaftssystems« betreffen. Allerdings rät Luhmann auch in diesem Kontext dazu, in der soziologischen Analyse trennscharf zwischen den einzelnen Sinnsphären zu differenzieren und eingeschliffene Semantiken zu prüfen:
»Niemand wird bestreiten, daß es Kapital und Arbeit ›gibt‹. Niemand wird bestreiten, daß die Haupterrungenschaft des ›Kapitalismus‹, daß auch Kapitalinvestitionen (und nicht nur Produktion, Tausch und Konsum) wirtschaftlich kalkuliert werden können, ebenso erfolgreich wie in ihren Auswirkungen problematisch ist. Niemand wird fortbestehende Verteilungsprobleme bestreiten. Niemand wird bestreiten, daß Arbeiter eine organisierte Vertretung ihrer Interessen benötigen. Nur die relative Prominenz dieses Problembereichs in der Beschreibung unseres Gesellschaftssystems steht zur Diskussion.« (1994: 171)
»Die moderne Gesellschaft ist auf eine Differenzierung von Politik und Wirtschaft, von Macht und Geld angewiesen; sie kann wirtschaftliche Probleme nicht einfach durch Zuteilung von Macht zum Zugriff auf knappe Güter lösen, ganz unabhängig davon, wie zentral oder dezentral solche Machtquanten verfügbar gemacht werden. Deshalb empfiehlt es sich, auch die Reflexionstheprien dieser beiden Systeme explizit zu trennen und eine politische Reflexion nicht schon deshalb für wirtschaftlich adäquat zu halten, weil sie sich auf die Wirtschaft bezieht.« (1994: 150)
Ebenso wenig lässt sich Luhmann als Verfechter eines ›Einfach-So-Laufen-Lassens‹ kennzeichnen. Gleichwohl hält er eine direkte Steuerung der Wirtschaft (etwa durch die Politik) vor dem Hintergrund der Kernannahmen seines ›operativen Konstruktivismus‹ (u.a.: jede Wirklichkeitssicht ist beobachterrelativ) für unmöglich:
»Systemtheoretische Analysen […] lenken den Blick zunächst auf die Selbststeuerung des Systems […]. Die gesellschaftspolitischen Hoffnungen suchen dagegen einen Adressaten, der auch die Systeme, die sich selbst steuern, noch kontrollieren könnte, und denken dabei an Politik. […] Aber diese Vorstellung kollidiert hart mit dem Faktum funktionaler Differenzierung, das es ausschließt, daß Systeme wechselseitig füreinander einspringen können.« (1994: 325)
»Alle Steuerung ist […] immer eine Operation […] neben vielen anderen in dem System […] und zwar unabhängig von der weiteren Frage, ob die Steuerung sich mit dem System selbst oder mit seiner Umwelt befaßt. In beiden Fällen geschieht gleichzeitig mit den (also auch: unbeeinflußbar durch die) Steuerungsoperationen immer auch etwas anderes.« (1994: 331f.)
»Das politische System kann also nur sich selbst steuern […]. Daß dies geschieht und wie dies geschieht, hat ohne Zweifel gewaltige Auswirkungen auf die Gesellschaft […]. Aber dieser Effekt ist schon nicht mehr Steuerung und auch nicht steuerbar, weil er davon abhängt, was im Kontext anderer Systeme als Differenz konstruiert wird […]. Sicher kann man die Ambition moderner wohlfahrtsstaatlicher und/oder ökologischer Steuerungspolitik eindringlich nachvollziehen und als politische Programmatik ausarbeiten. Nur sollte man darauf verzichten, dies als Gesellschaftssteuerung zu bezeichnen.« (1994: 337f.)
»Es mag dann immer noch zum Beispiel politisch sinnvoll sein, eine Verringerung von Arbeitslosenquoten anzustreben. Aber wenn man prüfen will, warum jemand auf diese Idee kommt und was er tun wird, um in diesem Sinne zu steuern, muß man das politische System beobachten und nicht das Wirtschaftssystem; und man wird dann beobachten müssen, wie das politische System das Wirtschaftssystem beobachtet und welche (vielleicht ›perversen‹) Effekte es erzeugt, wenn es den eigenen Beobachtungen entsprechend handelt.« (1994: 343)
»Jedenfalls muß man erst einmal beobachten können, wie es im anderen System läuft, bevor man auf dessen Selbststeuerung einwirken kann; und es ist eine Konsequenz der hier vertretenen Theorie, daß selbst diese Beobachtung nur mit Hilfe von eigenen Realitätskonstruktionen und nur mit Hilfe von selbstkonstruierten Informationen erfolgen kann, also gerade nicht mit Hilfe von Informationen, die […] aus dem beobachteten System fertig bezogen werden können.« (1994: 348)
›Direkte‹ Steuerungsbemühungen sind dementsprechend aus systemtheoretischer Sicht stets zum Scheitern verurteilt. Damit geht allerdings keineswegs der Ratschlag einher, sich zurückzulehnen und die Wirtschaft einfach mal so machen zu lassen. Vice versa sieht Luhmann durchaus aus die Möglichkeit, soziale Funktionssysteme zu irritieren (Luhmann 1997: 789ff.; Mölders 2014; kritisch: Mayntz 2005) – oder genauer gesagt: ihnen Angebote zur Selbstirritation zu machen:
»Autopoietische Systeme reagieren unmittelbar auf negative bzw. nicht typisierbare Reize. […] Auch in ihrer Irritierbarkeit sind die Systeme, und zwar sowohl die Bewußtseinssysteme als auch das Kommunikationssystem Gesellschaft, völlig autonom. […] Es handelt sich immer um ein systemeigenes Konstrukt, immer um Selbstirritation — freilich aus Anlaß von Umwelteinwirkungen. Das System hat dann die Möglichkeit, die Ursache der Irritation in sich selber zu finden und daraufhin zu lernen oder die Irritation der Umwelt zuzurechnen […].« (1997: 118f.)
Diese Angebote zur Selbstirritation bleiben jedoch prinzipiell ›ergebnisoffen‹, da sich letztlich nie abschätzen lässt, wie z.B. politische Regulierungsmaßnahmen oder auch Diagnosen aus der sozialwissenschaftlichen Politikberatung in den adressierten Zusammenhängen interpretiert und verarbeitet werden. Nichtsdestoweniger geht Luhmann von beständigen wechselseitigen Irritationen der einzelnen Teilsysteme der Gesellschaft aus – und spricht dabei u.a. auch sozialen Bewegungen die Funktion zu, jene Dynamiken auf die Agenda zu heben, die ansonsten durch das Raster gesellschaftlicher Wahrnehmung fallen:
»[…] Soziale Bewegungen bieten die Chance eines Realitätstestes der modernen Gesellschaft, die sich in den Funktionssystemen nur sehr selektiv selber beschreiben kann. Es gibt keine Gesamtbeschreibung, es gibt das, was die Massenmedien beschreiben […] und die sozialen Bewegungen haben dann die Funktion, Realitäten anderer Art ins Gespräch zu bringen, indem sie Widerspruch anmelden […].« (Luhmann 1994: 54ff.)
Sicherlich lässt sich mit Blick auf Luhmann zu Recht anmerken, dass er es sich mitunter allzu breitwillig »in der klimatisierten VIP-Lounge der 27. Beobachterebene mit einem Glas Champagner bequem« gemacht hätte (Amstutz/Fischer-Lescano, zit. nach Baschek 2014). Seiner Theorie aber desaströse Effekte auf die Kritikfähigkeit bzw. Aufklärungsbereitschaft der Soziologie unterzuschieben oder diese sogar als Rechtfertigungsgrundlage für den ›Neoliberalismus‹ zu brandmarken, erscheint dann doch übertaktet – oder schlicht irreführend.