Corona-Krise und Soziologie (7)

27. April 2020

Jutta Allmendinger legt der Politik nahe, ihre Entscheidungen nicht nur auf virologische Expertise zu gründen, sondern auch sozialwissenschaftliche Bewertungen einzubeziehen (23.4.2020, hr_info). Jenseits bereits unmittelbar beobachtbarer Rückwirkungen (z.B. auf den Arbeitsmarkt; vgl. eine Studie der Hans Böckler Stiftung) steht die Soziologie dabei allerdings vor dem Problem, dass sich die gesellschaftlichen Folgen und Konsequenzen der Krise heute noch gar nicht absehen lassen, da diese erst das Resultat vielschichtiger interagierender politischer, sozialer bzw. ökonomischer Entwicklungsprozesse auf regionaler und globaler Ebene im Verbund mit weiteren nicht vorhersagbaren Dynamiken sein werden.

Dass die Zukunft grundsätzlich ungewiss bleibt und gegenwärtige Entscheidungen stets unter den Bedingungen dieser Ungewissheit getroffen werden (müssen), ist dabei ein gesellschaftswissenschaftlicher Gemeinplatz. Die gefühlte Intransparenz und Unplanbarkeit des Künftigen erreicht in der individuellen Lebensführung wie auch in der sozialwissenschaftlichen Beobachtung derzeit nichtsdestominder ein neues Plateau – und so bleiben soziologischen Kommentatorinnen und Kommentatoren letztlich einzig die Modi des Hoffens und der Befürchtens bzw. Aussagen des Vielleichts und des Ungefähren. Das zeigt sich auch in den hier dokumentierten Stimmen der Woche:

  • Hartmut Rosa, Vera King (22.4.2020, FR): »Vielleicht lässt sich die gegenwärtige Stillstellung der materiellen und physischen Bewegung in vielen sozialen Bereichen als eine Art Moratorium nutzen, um über die Schieflage im Verhältnis von Wichtigem und Dringlichem nachzudenken. Sie lässt sich nicht einfach durch eine Korrektur der Lebensführung beheben, weil sie systemische Ursachen hat. Aber auch auf der Systemebene zwingt Corona gerade dazu, die wirklich wichtigen Bereiche des öffentlichen Lebens von den nur dringlichen zu trennen. Angesichts der problematischen Steigerungslogik der Spätmoderne sollte dabei nicht System-, sondern ›Lebensrelevanz‹ das Kriterium sein. […] Es sollte nicht einfach um ›Exit‹ aus dem ›Lockdown‹ und rasche Rückkehr zur Normalität gehen – vielmehr wäre ein systemischer Wandel zugunsten des Wichtigen angezeigt.«
  • Mareike Bünning (26.4.2020, taz): »Egal, wie die Erwerbsarbeit verteilt ist, die Frauen machen zu Hause den Löwenanteil. Das sind gesellschaftliche Normen, denen Familien überall im Alltag begegnen. […] Es kann sein, dass sich gerade eine neue Rollenverteilung entwickelt. Dass sich neue Routinen einspielen, die dann vielleicht langfristig Bestand haben. Das wäre das optimistische Szenario. […] Bei vielen der klassischen Frauenberufe bekommen wir jetzt ganz klar vor Augen geführt: Das sind die systemrelevanten Berufe, auf die wir im Zweifelsfall angewiesen sind! Es sind die Berufe, bei denen schon lange eine Aufwertung notwendig ist. Jetzt sollte es nicht bei zwischenzeitlicher Anerkennung, Klatschen und einer Einmalzahlung bleiben. Diese Aufwertung muss tatsächlich stattfinden.«
  • Wilhelm Heitmeyer (13.4.2020, ZEIT): »Corona ist ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit. […] Die Folgen dürften soziale Desintegrationen und Statusverluste sein, also weitere Kontrollverluste. […] Es gibt jedenfalls einen Zusammenhang zwischen Kontrollverlust und der Anfälligkeit für Verschwörungstheorien. Und da die Kontrollverluste dieser Tage nun wirklich breit gestreut sind, dürften sie größere Reichweite bekommen. […] Die Anerkennungsprozesse, die jetzt den Krankenschwestern und den Pflegern entgegengebracht werden, sind wunderbar. Sie sind bewundernswert und beruhigend. Aber erst das Langfristige ist strukturbildend. Und ich bezweifle, dass das lange anhalten wird. […]  ich sehe den großen Paradigmenwechsel nicht. Ich fürchte, diese schwärmerische Gesellschaftsromantik dürfte an den verhärteten Strukturen des Finanzkapitalismus und dem Kontrollzuwachs der politischen Institutionen zerschellen.«
  • Silke Steets (22.4.2020, Marktspiegel): »Fußball ist die populärste Sportart in Deutschland und damit der Sport, der die meisten Menschen auch im Alltag erreicht. […] Der Fußballsamstag ist ein wöchentliches Ritual, strukturiert unsere Zeit und produziert ein Gefühl von Rhythmus und Normalität. […] Auch Geisterspiele lassen sich durch Fernsehen und Radio ins Wohnzimmer holen, das heißt, das wöchentliche Ritual ließe sich auf diese Weise wiederbeleben. Aber als atmosphärisches Erlebnis wird es anders sein, ohne die jubelnden Fans im Hintergrund und die Stimmung. […] Die Saison mit Geisterspielen zu beenden ist ohnehin nur für die 1. und 2. – vielleicht noch die 3. – Bundesliga interessant, da die Vereine einen Großteil ihres Budgets über die Vermarktung der Fernsehrechte erzielen. Für die Vereine der Regionalligen und abwärts bedeutet es hingegen finanzielle Verluste, wenn sie ein Spielgeschehen organisieren müssen, aber keine Tickets verkaufen können.«
  • Armin Nassehi (27.4.2020, Deutschlandfunk): »Was beobachten wir eigentlich? Wir hatten zuerst mal flatten the curve, […] dann haben wir sozusagen ein neues Maß, das simuliert, als hätte man eine Objektivität, die Verdoppelungszahl ist ja nur die Verdoppelungszahl unter denen, die tatsächlich getestet sind […]. Und dieser R-Wert, der ergibt sich sozusagen auch nicht aus einer Grundgesamtheit, sondern aus dem, was an statistischem Material zur Verfügung steht. Das heißt, wir haben es eigentlich mit Artefakten zu tun, mit denen wir viel zu viel Objektivität zu messen glauben, als wir es eigentlich können. Und daraus kann man zwei Konsequenzen ziehen. Die eine ist, wir wissen es nicht, wir müssen also irgendwas ausprobieren, das wäre Trial-and-Error, das andere wäre, womöglich etwas vorsichtiger zu sein. […] Ein zweites Mal tatsächlich wieder schärfer zu werden, also schärfer zu werden im Sinne von Lockdown- und Shutdown-Maßnahmen, das wäre sowohl ökonomisch als auch im Hinblick auf den sozialen Frieden als auch im Hinblick auf die Folgen, die das für die Familien hat, sicherlich eine Katastrophe.«
  • Franz Seifert (13.4.2020, ORF): »Regierungen suchen diese Gesellschaften durch die Krise zu steuern. […] Wenn Regierungen dabei betonen, ›auf Sicht‹ zu entscheiden, heißt das, dass sie dies unter Bedingungen von Unsicherheit und Nicht-Wissen tun. Auf Sicht fährt man, wenn man zu wenig sieht. […] Der Horizont ist fern, markiert durch das Verfügbarwerden des Impfstoffes. Dann ist es vorbei. Der Weg dorthin aber ist lang, riskant und schmal. […] Der Scheinwerfer auf diesem kaum planbaren, experimentellen Weg ist der Erkenntnisapparat der Wissenschaft. […] Obwohl […] Wissenschaft der Politik eben nicht den Weg leuchten kann, macht der Problemdruck ihren Beitrag unverzichtbar. […] Einerseits ›verwissenschaftlicht‹ die Politik, indem sie Entscheidungen mit wissenschaftlicher Autorität untermauert, andererseits ›politisiert‹ das wiederum die Wissenschaft, deren Wahrheitssuche ins Kreuzfeuer der politischen Auseinandersetzung gerät. Das wäre zumindest die Voraussage: die innerwissenschaftlichen Kontroverse um Pandemie-relevante Forschung müssten mit Dauer der Maßnahmen zunehmen. Gegenstimmen müssten laut, Experten zunehmend von anderen Experten angezweifelt werden.«

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