Sommerlektüre: Umberto Eco über Fortschritt, Verhandlung und Optimismus

31. Juli 2021

1999 ist ein Interviewband mit dem Titel »Das Ende der Zeiten« in deutscher Übersetzung erschienen, in dem sich Umberto Eco, Stephen Jay Gould, Jean Claude Carrière und Jean Delumeau über den bevorstehenden Jahrtausendwechsel mit den drei Initiator*innen des Bandes ausgetauscht haben (leider indes nicht wechselseitig). Das Buch, das mir neuerlich beim Aufräumen wieder in die Hand gefallen ist, hat vollkommen zurecht enttäuschte Rezensionen erfahren (im Deutschlandfunk z.B. war von »Cocktailgeplauder« die Rede).

In losem Anschluss an die in diesem Blog vor einiger Zeit verfolgte Serie »Heute ist die Zukunft von gestern« erscheint es mir im Jahre 2021 allerdings durchaus anregend, erneut einen Blick auf das Gespräch mit Umberto Eco zu werfen, der sich in jenem Interview immer wieder auch etwa mißverstanden fühlte.

Eco über Fortschritt

»Ich habe gesagt, daß unsere westliche Zivilisation mit der Idee einer bestimmten Richtung der Geschichte entstanden ist, die eng mit der Idee des Fortschritts verbunden ist. Der Begriff Fortschritt kann allerdings auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Zum einen in dem Sinne, daß man niemals zurückkehren kann, daß das Gesetz der Natur (aber auch der Kultur) Transformation ist und daß wir, wenn wir uns zu unserer Vergangenheit zurückwenden, sie so überdenken, daß etwas Neues entsteht. Zum anderen in dem Sinne, daß alles, was später kommt, besser ist als das bisher Vorhandene. Diese beiden Vorstellungen sind nicht identisch. Wenn man etwas anders macht, kann man auch Monster produzieren. Im 19. Jahrhundert wurde die Idee des Fortschritts als unendliche und umumkehrbare Vervollkommnung vergöttlicht. […] In unserem Jahrhundert wurde verstanden, daß Fortschritt nicht unbedingt kontinuierlich und kumulativ ist. […] Die gegenwärtige Ökologie ist vielleicht das wichtigste Moment dieser Infragestellung des Fortschritts.« (244f.)

Eco über das soziale Gedächtnis und das Web

»Jahrhundertelang haben wir den Eindruck gehabt, daß unsere Kultur sich durch eine ununterbrochene Anhäufung von Kenntnissen definiert. […] Aber das ist falsch! Die Geschichte der Zivilisationen ist eine Aufeinanderfolge von Abgründen, in denen Unmengen von Erkenntnissen verschwinden! […] Wir müssen uns klarmachen, daß im Laufe der Zeit in jeder Epoche ein Teil der Erkenntnisse verloren gegangen ist. […] Das soziale und kulturelle Gedächtnis hat die Funktion zu filtern und nicht, alles zu konservieren. […] Mit dem Web ist alles Wissen, jede mögliche und jede blödsinnigste Information da und steht uns zur Verfügung. Daher die Frage: Wer filtert? […] Die Freiheit der Auswahl unter einer Vielzahl von Informationen ist gut für die Reichen (ich meine die Reichen in intellektueller Hinsicht, die eine kritische Auswahl treffen können), nicht aber für die Armen. Wir bewegen uns auf eine Klassenspaltung zu, die nicht mehr auf Geld beruht, sondern auf der Fähigkeit, seinen kritischen Geist einzusetzen und Informationen zu sortieren. […] Beim Turmbau zu Babel waren Leute, die siebzig verschiedene Sprachen sprachen: Mit guten Übersetzern mag das noch gehen. Aber das Web kann zu einem Turm werden, der Millionen verschiedene Enzyklopädien produziert. […] Die echte Filterung des Gedächtnisses […] folgt dem Rhythmus der Zeiten und Generationen; letztlich diskutiert und entscheidet die ganze Gesellschaft darüber, was überleben soll.« (247–257)

Eco über die Zerstörung der Umwelt und Verhandlung

»Der Prozeß der Zerstörung der Umwelt beginnt mit der Erfindung des Feuers und, viel früher, mit dem ersten Schlag auf einen Feuerstein, um seine Form zu verändern. Seitdem der Mensch auf der Welt tätig ist, deformiert und zerstört er sie langsam. […] Der Planet hat Millionen Jahre gebraucht, um sich an die Konstruktionen der Bienen zu gewöhnen, während wir unsere Techniken ständig ändern und dazu noch die mißliche Tendenz haben, niemals stehenzubleiben. Unser Problem ist also, einen Pakt mit der Erde zu schließen. Da wir sie brauchen (wie können nicht einfach auf eine andere Erde umziehen), müssen wir ausprobieren, bis zu welchem Punkt sie uns ertragen kann. Daher muss ›verhandelt‹ werden. Vor allem mit ihr, und unter uns. […] Eine Verhandlung dieser Art läuft unseren elementarsten Trieben zuwider. […] Wenn eine tödliche Gefahr unmittelbar bevorsteht, scheint eine Verhandlung unmöglich zu sein, und jeder hält sich für schlauer als die anderen. Zu den Wünschen, die ich für das kommende Jahrhundert formulieren könnte, gehört die Hoffnung auf eine neue Ethik der Verhandlung.« (267–271)

Eco über technischen und sozialen Wandel

»Seit dem 19. Jahrhundert zeichnet sich die Entstehung einer Gesellschaft ab, die auf Technologie basiert. Die aktuelle technologische Revolution kann nur als Fortsetzung dessen gesehen werden, was im 19. Jahrhundert initiiert wurde. Die große Revolution unseres Jahrhunderts ist aber nicht technologisch, sondern sozial. In unserem Jahrhundert ist ein neuer Typ der Beziehung zwischen Menschen aufgetaucht. Die schlichte Tatsache, daß Rassismus und Intoleranz heute schlecht angesehen sind, ist ein Beweis dafür. […] Die globalen Bedrohungen, die auf uns lasten, haben uns zweifellos solidarischer gemacht und uns das Gefühl gegeben, daß wir alle in einem Boot sitzen. Dieses Gefühl ist absolut neu.« (273f.)

Eco über Optimismus

»Wir leben mit einer ganzen Reihe an Damoklesschwertern über unseren Köpfen. […] Aber ich bleibe ein Anhänger eines spezifischen Optimismus, der darin besteht, schrittweise kleine Verbesserungen zu erreichen. Dieser Optimismus beruht auf dem Vertrauen auf die menschliche Gemeinschaft. Warum Bücher schreiben, wenn man nicht weiß, ob es in tausend Jahren noch jemanden gibt, der sie lesen kann? Warum Kinder in die Welt setzen, wenn man nicht weiß, ob sie selber noch Kinder haben werden? Und so weiter. Aus diesem Grund ist die Gefahr der Zerstörung des Planeten sicherlich die größte Gefahr.« (277)


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