Harald Welzer zum »digitalen Totalitarismus«
15. April 2015Harald Welzer (57), ein stets auf massenmediale Anschlussfähigkeit bedachter Sozialpsychologe, macht sich in einem Interview mit der Berliner Zeitung Gedanken zum »digitalen Totalitarismus« und gibt dabei u.a. Hans Magnus Enzensberger und seinem vielkritisierten Boykottaufruf argumentative Rückendeckung:
»Wir gefährden die Demokratie, wenn wir die Grenzen zwischen öffentlich und privat aufheben, sei es mutwillig oder nachlässig. […] Die entscheidende Verwandtschaft zwischen politischem und digitalem Totalitarismus liegt in der Zerstörung der Privatheit, die das Individuum schutzlos macht. Günther Anders hat dazu schon in den 60er Jahren gesagt, ›der Einzelne ist das erste besetzte Gebiet‹. […] Nun war die Privatheit aber noch nie in der Geschichte, in keiner der totalitären Gesellschaften, so im Verschwinden begriffen, wie das heute der Fall ist. […]
Wir bejubeln jede beschissene App oder den Fernseher, der auf Sprachkommandos reagiert. Aber zugleich sind wir empört über Angriffe auf unsere Privatsphäre, obwohl wir den Angreifern Tür und Tor öffnen. […]
Hans Magnus Enzensberger hat dazu gesagt, es sei ganz einfach, sich dem digitalen Totalitarismus zu entziehen: Smartphone wegwerfen, den Internetzugang kappen, E-Mail-Korrespondenz einstellen. Dafür erntete er dann viel Hohn und Spott. […] Aber ich finde, er hat völlig Recht. […] Widerstand kostet. Schlimmstenfalls das Leben, wie wir aus der Geschichte wissen. Uns hingegen erscheint es schon als zu teuer bezahlt, wenn wir auf Whatsapp verzichten sollten. Obwohl wir wissen, dass wir uns mit jeder Message einer Totalüberwachung ausliefern. Enzensberger hält dagegen und sagt: Wir können etwas tun, wir müssen nur wollen.«
Daran anknüpfend gibt Welzer zu Protokoll, dass er selbst sich zwar mit E-Mails beschäftige, aber natürlich keinen XING- oder Facebook-Account besitze und sich auch unter keinen Umständen ein Smartphone zulegen würde. Und sicherlich kann Welzer diese Entscheidung für sich treffen, ohne dass für ihn daraus signifikante Nachteile entstehen – schon alleine, weil es in und für seine(r) Altersgruppe sozial akzeptiert wird, nicht beständig erreichbar bzw. in der digitalen Welt präsent zu sein. Für die jüngeren Onliner allerdings sieht das anders aus, das zeigt z.B. die jährlich erhobene JIM-Studie, die das Nutzungsverhalten der 12- bis 19-Jährigen in den Blick nimmt.
Natürlich erscheint es mehr als wichtig, neben den beständig durch die Anbieter selbst kommunizierten Vorteilen der digitalen Moderne auch deren Risiken und die erweiterten Anforderungen an die persönliche Medienkompetenz zu vermitteln. M.E. kann es dabei jedoch nicht darum gehen, sich Idealvorstellungen einer längst vergangenen Medienepoche hinzugeben (entsprechende Stimmen gab es mit dem Aufkommen jedes neuen Mediums in der Geschichte; vgl. die Arbeiten von Michael Giesecke) oder eine Form der medien- und kommunikationstechnischen Abstinenz einzufordern, die auf ›digital natives‹ schlicht überkommen wirken muss.
Vielmehr bedarf es der ausgewogenen Vermittlung sowohl der Potentiale als auch der Nebenwirkungen, die mit der digitalen Medienkonvergenz einhergehen. Neben schierem Verwendungs-Know-how und erweiterten Bewertungskompetenzen im Umgang mit neuen Medien sollten als unabdingbare Basis für ein mündiges Leben im digitalen Zeitalter folglich auch die sozioökonomischen Grundkonfigurationen auf den entsprechenden Feldern Eingang in den allgemeinen Bildungskanon finden. Insbesondere das ›mobile Web‹ verlangt nach einer verstärkten (bestenfalls beständig mitlaufenden) Reflexion der weltweiten infrastrukturellen Zentralstellung weniger Technologieunternehmen, mit der eine nicht zu unterschätzende präformierende Kraft und bis dato kaum limitierte Datenmacht einhergeht (vgl. Schrape 2015).