Karl Jaspers über Max Weber (1920)

27. Dezember 2020

Am 14. Juni 1920 ist Max Weber (geb. 1864) verstorben. Am 17. Juli veranstaltete die Heidelberger Studentenschaft eine akademische Trauerfeier, zu welcher der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) eine Rede beisteuerte. Jaspers war seit seiner Studentenzeit mit Weber befreundet und trug maßgeblich zur posthumen Einordnung von Webers Gesamtwerk bei. Jaspers’ Rede ist mir vor einigen Tagen in einem Band von 1951* in die Hände gefallen. Einige Ausschnitte:

»Sieht man sein Werk an, wie es vorliegt, so findet man eine Fülle einzelner Arbeiten. Aber eigentlich sind alle Fragmente. Früher kam es vor, daß eine Arbeit mit dem Vermerk endete: Ein weiterer Artikel folgt. Doch blieb es der letzte zu dem Problem. Arbeiten, die in sich geschlossen schienen, wiesen über sich hinaus, forderten Weiterarbeit, niemals war etwas fertig im Sinne der Vollendung. […] Fragmentarisch war auch sein Leben in der Welt […]. Ist es möglich, angesichts dieses fragmentarischen Charakters Max Weber als den geistigen Gipfel der Zeit zu empfinden? Nur dann, wenn man im fragmentarischen Wesen selbst einen positiven Sinn zu sehen vermag, wenn man glaubt, daß das Größte, sofern es sich verwirklicht, notwendig Fragmentcharakter hat.

[…] Max Weber wollte Fachwissenschaftler sein und hielt seine Soziologie für eine Fachwissenschaft. Es ist aber eine wunderliche Fachwissenschaft: sie ist ohne eigenes Stoffgebiet, denn all ihren Stoff bearbeiten schon vorher andere Wissenschaften, die wirklich bloß fachlich sind; und eine Fachwissenschaft, die faktisch universal wird, indem sie, wie früher die große Philosophie, alle Wissenschaften für sich arbeiten lässt und alle Wissenschaften befruchtet – sofern sie irgend etwas mit dem Menschen als Objekt zu tun haben. […] Da sie aber nur Wurzelgebiet der Philosophie, nur Erkenntnis und innerhalb der Erkenntnis nur ein Teil ist, so kann sie nicht Philosophie sein wollen. Und aus philosophischer Gesinnung betonte Max Weber das Fachwissenschaftliche seiner Arbeit, aus wissenschaftlicher Gesinnung bemühte er sich, die Soziologie zur Fachwissenschaft zu machen. Denn so groß und universal sie ist, sie war ihm nur ein Einzelnes. Der Philosoph ist umfassender.

[…] Einen existenziellen Philosophen aber haben wir in Max Weber leibhaftig gesehen. Während andere Menschen wesentlich nur ihr persönliches Schicksal kennen, wirkte in seiner weiten Seele das Schicksal der Zeit. Wenn er auch mit der Gewalt seines menschlichen Herzens und seiner Liebe das Persönliche erfuhr und gestaltete, so war doch das alles überwölbt von einem Größeren. Der Makroanthropos unserer Welt stand in ihm gleichsam persönlich vor uns. Es faszinierten uns seine schlagenden Formulierungen für die von ihm tief erlebten Ereignisse und Entscheidungen unserer Zeit, wir kamen durch ihn zum klarsten Bewußtsein der Gegenwart und des Augenblicks. […] Aber er stellte es nicht als Totalität vor uns hin. […] Die Einheit und Vollendung war nicht da als objektives Gebilde für ihn […], sondern als lebendige Bewegung in seiner Existenz, die zu augenblicklichen, vollendeten Synthesen kam, in der er beim Werten nicht die Sachlichkeit, bei der sachlichen Erörterung nicht die möglichen Wertungen vergaß, und immerfort aufeinander bezog, was getrennt war und in der Beziehung zugleich getrennt blieb.

[…] All seine Systematik galt ihm für begrenzte Erkenntniszwecke und war darum von begrenzter relativer Bedeutung. […] Das Zentrale war ihm die Soziologie. Aber auch hier hatte alles fragmentarischen Charakter, fragmentarisch noch in der unendlichen Ausbreitung und Weite seiner Studien. Das hat einen tiefen Grund in seiner philosophischen Existenz. Er ist Fragmentarier aus einem Bewusstsein der Totalität und des Absoluten heraus, das sich auf keine andere Weise aussprechen kann. Der Mensch als endliches Wesen kann nur Einzelnes zum Gegenstand seines Wollens machen, das Ganze und Absolute nie direkt angreifen, sondern nur indirekt durch klarstes Scheiden, reinliches Erfassen des Besonderen. […] Man darf sagen, das Ganze war ihm im Endlichen, so daß das Endliche von einem unendlichen Gehalt zu werden schien. Kein System, kein Werk, suchte dieser Mann in seiner dämonisch ruhelosen Bewegung als Vollendung, die ihn eingeengt, getäuscht, geblendet hätte. Dafür war jedes Einzelne, das er ergriff, durchglüht, so daß es als direkte Ausstrahlung eines selbst im Hintergrunde bleibenden Absoluten wirken musste.

[…] Unsere Zeit gilt vielen als bloß zerfahren, relativistisch, glaubenlos, intellektualistisch, betriebsam. Und manche finden keinen Ausweg, als romantische Flucht in Vergangenes oder als selbst betriebsame Wiederherstellung vergangener Gestalten des Lebens. Wer es aber für möglich hält, daß alles, was an der heutigen Welt kritisiert wird, periphere Erscheinung, Entleerung und Entartung eines Substantiellen sei, und wer glaubt, daß jede Epoche die Gegenwart des Ewigen enthält, der vermag in Max Weber eine substantielle Erscheinung unserer Zeit sehen. […]«

* Jaspers, Karl (1951 [1920]): Max Weber. In: Ders.: Rechenschaft und Ausblick. München: Piper, 9–25.


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