Technikutopismus: Vom Whole Earth Catalog zur Maker Economy — Teil 1

9. Juli 2018

Nachfolgend Ausschnitte aus einem im Herbst erscheinenden Diskussionspapier zu offenen Werkstätten und Collaborative Commons (Projektkontext) — Teil 1 von 3:

Ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Idee einer modernen Do-it-yourself-Kultur besteht in dem ab 1968 erschienen Whole Earth Catalog, der als eines der Zentralorgane der kalifornischen Gegenkultur der späten 1960er-Jahre gilt […]. Der Katalog definierte sich als »evaluation and access device« für Werkzeuge und technische Hilfsmittel und propagierte als Gegenreaktion auf die zunehmende industrielle Arbeitsteilung sowie politische bzw. ökonomische Zentralisierung eine Rückbesinnung auf Praktiken der individuellen und dezentralen Produktherstellung:

»So far, remotely done power and glory—as via government, big business, formal education, church—has succeeded to the point where gross defects obscure actual gains. In response to this dilemma and to these gains a realm of intimate, personal power is developing—power of the individual to conduct his own education, find his own inspiration, shape his own environment, and share his adventure with whoever is interested. Tools that aid this process are sought and promoted by the WHOLE EARTH CATALOG.« (Brand 1968: 2)

Bildquelle: Nicolás Boullosa, Flickr (https://www.flickr.com/photos/faircompanies/14628349513/)

Der Gründer des Whole Earth Catalog, der bis 1971 erschien und sich durch ein betont improvisiertes Layout auszeichnete, und des nachfolgenden populärwissenschaftlichen Magazins CoEvolution Quarterly (1974–1984) war mit Stewart Brand ein formal hochgebildeter unternehmerischer Aktivist aus der nordamerikanischen Hippie-Kultur mit elterlichen Finanzreserven, der zuvor szeneeinschlägige Musikfestivals mitorganisiert hatte und 1985 mit The WELL (»The Whole Earth ‘Lectronic Link«) eine der ersten virtuellen Communities über Modemeinwahl lancieren sollte. Das Aktivistennetzwerk um Brand vertrat konträr zu vielen Zeitgenossen (z.B. Mumford 1967, 1970) den Standpunkt, dass technischer Fortschritt, soziales Gleichgewicht und Naturbewahrung nicht zwangsläufig im Gegensatz zueinander stehen, sondern entsprechend genutzte Technik eine in all diesen Belangen bessere Zukunft einleiten könne: »[…] man has still within him sufficient resources to alter the direction of modern civilization, for we then need no longer regard man as the passive victim of his own irreversible technological development.« (Brand 1974: 23)

Als Schüsselressource auf diesem Weg beschrieb Brand information– und meinte damit vor allen Dingen praxisorientiertes Herstellungs- und Anwendungswissen, das in der Vergangenheit oft nicht (kosten-)frei zugänglich war: »On the one hand information […] wants to be expensive, because it’s so valuable. The right information in the right place just changes your life. On the other hand, information almost wants to be free […].« (Brand in Getty Images 1984: Min. 0.38) Dementsprechend bestand die Grundidee des Whole Earth Catalog darin, technisches Know-how im Verbund mit politischem Kontextwissen möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, um diese zur dezentralen Herstellung materieller Güter und Überwindung kapitalistischer Strukturen zu ermächtigen. In Brands (1998: 3) eigenen Worten: »At a time when the New Left was calling for grassroots political (i.e., referred) power, Whole Earth eschewed politics and pushed grassroots direct power—tools and skills.« Bereits in den Geburtsjahren der modernen DIY-Kultur wurde der Hardware-Amateur so als eine Sozialfigur angelegt, die im Kontrast zur Welt privatwirtschaftlicher Organisationen bzw. ökonomischer Zwänge steht und […] einer gerechteren Ära menschlicher Existenz den Weg bereiten sollte (Toscano 2016: 110ff.; Diederichsen & Franke 2013).

Mit dieser Ausrichtung traf Brand offenkundig den Zahn seiner Zeit: Während der erste Whole Earth Catalog(WEC) 1968 zunächst noch in kleiner Stückzahl selbsttätig verteilt wurde (64 Seiten, 5 US-Dollar), erschien The Last Whole Earth Catalog 1971 in einer Auflage von einer Millionen Stück und wurde über die Verlagsgruppe Random House vertrieben (452 Seiten, 5 US-Dollar). Hugh Kenner (1971: 34) beschrieb den WEC und angrenzende Publikationen in dieser Zeit als »metaphors disguised as how-to-do-it and where-to-find-it manuals […]: a need that’s propelling across bookstore counters, by the hundred thousand, what only two years ago was the information exchange of a nearly invisible subgroup«. Binnen weniger Jahre war der Katalog in diesem Sinne zu einer Modeerscheinung in akademischen Milieus geworden und in den folgenden Jahrzehnten etablierten sich moderne DIY-Praktiken in Nordamerika und Europa als Mittel zur Selbstverwirklichung wie auch zur kostengünstigen Heimgestaltung (Roush 1999; Watson & Shove 2008).

Bereits der WEC zeichnete sich – wie später weite Teile der Hacker-Szene – neben dem Glauben an die direkte Lösung gesellschaftlicher Probleme durch Technik nicht nur durch eine projektinterne Vorherrschaft weißer Männer und eine klare Entscheidungsspitze (Brand selbst) aus, sondern entwickelte mit dem zunehmend dominierenden synthetisierenden Abdruck eingesendeter Beiträge auch ein heute omnipräsentes Geschäftsmodell: »[…] essentially encouraging customers to create the product, and then selling the customers and their work to each other and keeping the profits.« (Worden 2012: 212) In den von Brand geführten Nachfolgepublikationen (CoEvolution Quarterly, Whole Earth Review) rückten denn auch ökologische und soziale Themen gegenüber der affirmativen Reflexion technischer und unternehmerischer Entwicklungen mehr und mehr in den Hintergrund (alle Ausgaben der genannten Publikationen sind einsehbar unter: http://wholeearth.com).

Literaturangaben finden sich im projektierten Diskussionspapier. Siehe auch: »The Logic of Digital Utopianism«.