Infrastrukturelle Macht im Social Web

9. September 2016

Die norwegische Zeitung Aftenposten hat ein Foto aus dem Jahre 1972 auf Facebook veröffentlicht, das wohl die ganze Welt kennt – ein Zeitdokument, ein Symbol für die Schrecken des Vietnamkriegs: Ein kleines Mädchen läuft nach einem Napalm-Angriff nackt und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Kamera zu. Facebook hat dieses Foto nun ohne Diskussion gelöscht, weil es gegen die Richtlinien der Plattform verstößt (»We place limitations on the display of nudity to limit the exposure of the different people using our platform to sensitive content […]«).

Ähnliche Löschungen werden regelmäßig vollzogen, aller Vermutung nach zumindest in teilautomatisierter Form, nach eindeutig fixierten Kriterien und in standardisierten Zeitfenstern. Meistens (aber nicht immer) außerhalb des Aufmerksamkeitsbereichs der Öffentlichkeit. Diesmal hat es Espen Egil Hansen, Aftenposten-Chefredakteur, mit einem offenen Brief an Mark Zuckerberg (#dearmark) indes geschafft, eine netzweite Debatte anzustoßen, die es wert ist das Sommerloch zu überdauern:

»Listen, Mark, this is serious. First you create rules that don’t distinguish between child pornography and famous war photographs. Then you practice these rules without allowing space for good judgement. Finally you even censor criticism against and a discussion about the decision […].

Facebook has become a world-leading platform for spreading information, for debate and for social contact between persons. You have gained this position because you deserve it. But, dear Mark, you are the world’s most powerful editor. Even for a major player like Aftenposten, Facebook is hard to avoid […]. However, even though I am editor-in-chief of Norway’s largest newspaper, I have to realize that you are restricting my room for exercising my editorial responsibility. […] I think you are abusing your power […].

The free and independent media have an important task in bringing information, even including pictures, which sometimes may be unpleasant, and which the ruling elite and maybe even ordinary citizens cannot bear to see or hear, but which might be important precisely for that reason. […] This right and duty, which all editors in the world have, should not be undermined by algorithms encoded in your office in California. […]«

Espen Egil Hansen argumentiert mit Blick auf die Pressefreiheit und die zentrale intermediäre Funktion, die freie Medien in einer demokratischen Gesellschaft einnehmen – und sicherlich ist er auch über die konkrete Zensur der Beiträge seines Blattes durch »the world’s most powerful editor« verärgert.

Aber der Fall verweist meines Erachtens überdies auf eine generellere Schieflage, die im Verhältnis zu den vielen ermöglichenden Eigenschaften der entsprechenden Plattformen noch immer viel zu selten reflektiert wird: die marktbeherrschende Stellung einiger weniger global dominierender Unternehmen als Betreiber der zentralen Infrastrukturen der Kommunikation, der Mediendistribution und des Informationsabrufs, die sich in dieser Intensität selbst für die Hochphasen früherer Anbieterkonzentration im Medienbereich nicht diagnostizieren ließ.

Dass elementare kommunikationstechnologische Infrastrukturen durch privatwirtschaftliche Anbieter betrieben und entwickelt werden, ist natürlich alles andere als ein neuartiges Phänomen: Bereits die Erfindung des Metalllettern-Buchdrucks wurde durch Johannes zu Gutenberg und seinen Investor vor allen Dingen aufgrund handfester ökonomischer Interessen vorangetrieben und konnte sich ab Mitte des 15. Jahrhunderts zunächst vorrangig angesichts seiner hohen Umsatzpotentiale rasch entlang der europäischen Handelsstraßen verbreiten.

Ein Novum der digitalen Moderne ist allerdings die mediengeschichtlich singuläre Bündelung privatwirtschaftlicher Verfügungsmacht über Infrastrukturen wie Daten sowie die regelsetzende Macht, die zentrale Anbieter wie Facebook nicht nur indirekt mit ihren vordefinierten Anwendungen, Funktionen und Filterparadigmen auf die Kommunikation auf ihren Plattformen haben, sondern auch ganz unmittelbar mit Blick auf die Allgemeinen Nutzungsbedingungen, auf die sich alle Beteiligten einzulassen haben, und die dezidierten Regelungen, welche Inhalte im Rahmen ihrer Dienste veröffentlicht werden können und welche nicht.

Diese Regelungen sind jedoch nicht das Resultat langwieriger gesellschaftlicher Aushandlung oder durch demokratische Verfahren legitimiert, sondern können im Prinzip einfach durch den Betreiber festgelegt werden. Gleichzeitig lässt sich dieser infrastrukturellen wie regelsetzenden Macht weniger weltweit agierender Unternehmen aber auch nicht durch nationalstaatliche Regulierungsmaßnahmen beikommen. Möglich wäre allenfalls ein inkrementeller Wandel ›von unten‹, falls sich künftig ein zunehmender Teil der Nutzerschaft an diesen Konzentrationstendenzen stören, seine Präferenzen umstellen und entsprechende Stellungnahmen absetzen sollte. Für eine solche eigenständig emergierende ›öffentliche Empörung‹, die ab einem gewissen Schwellenwert mit großer Wahrscheinlichkeit wiederum massenmediale Reflexion erfährt, bietet das Social Web wiederum eine ideale Spielfläche.


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