Tom Standage – um historische Vergleiche nie verlegen, wie schon sein Buch »Das viktorianische Internet« (1999, NZZ-Rezension) zeigt – hat diesen Monat in The Economist eine sehr lesenswerte Artikelserie zum Verhältnis von Internet und Print- bzw. Massenmedien veröffentlicht. Seine Kernthese lautet: Nach einer Phase der Massenmedien und des Gatekeeper-Journalismus bewegen wir uns nun durch Social Media im Web seit einigen Jahren wieder in die Richtung einer liberalen und partizipativen »Kaffeehaus«-Öffentlichkeit, ähnlich wie sie Richard Sennett für das Ancient Régime beschrieben hat. Und das heisst: »News is becoming a social medium again, as it was until the early 19th century—only more so«.
»Das Internet macht vielleicht doch nicht dumm« überschreibt Die Zeiteinen Artikel zu den Ergebnissen einer aktuellen Studie der Columbia University (»Google Effects on Memory«): In der Untersuchung stellte sich heraus, dass sich die Probanden »besser an den Ort erinnern konnten, an dem die Information zu finden ist, als an die Information selbst«. Daraus leiten die Autoren (Sparrow/Wegener) die Vermutung ab, dass das Web als externes Gedächtnis dienen kann.
Ob das Web als Erweiterung des Gehirns wirkt, hängt allerdings wesentlich auch davon ab, über welche Bewertungs- und Selektionskompetenzen der jeweilige Onliner verfügt bzw. aus welchen Gründen heraus er ins Netz geht. Oder um es in den Worten eines netzbekannten fiktiven Rückblick-Kurzfilms zu sagen:
»Bestenfalls ist [das Netz] für seine klügsten Nutzer einer Zusammenfassung der Welt, tiefer umfassender und nuancierter als alles vorher Erhältliche, aber Schlimmstenfalls ist [es] für allzu viele Menschen lediglich eine Ansammlung von Belanglosigkeiten […].«
Dieser Ausschnitt stammt aus der imaginären filmischen Rückschau EPIC 2015, der als Projekt eines ebenfalls erfundenen Museum of Media History die Geschichte des Internet von 1989 bis 2015 nachzeichnet und im Jahr 2004 veröffentlicht wurde. Er beschreibt, wie sich das Netz unter der Vorherrschaft einer damals angenommenen Allianz von Google und Amazon zu einem automatisierten Evolving Personalized Information System entwickelt, das »für jeden ein Content-Paket zusammen[stellt], das seine Vorlieben, seine Konsumgewohnheiten, seine Interessen, seine demografischen Faktoren und seine sozialen Bindungen nutzt« – ein individuelles externes Gedächtnis also, das alle gewünschten Informationen auf dem silbernen Tablet(t) serviert:
Schon aufgrund der Vielzahl an ineinander wirkenden Variablen bleiben die langfristigen soziokulturellen Folgen neuer kommunikationstechnischer Entwicklungen kaum abschätzbar, auch wenn sich hin und wieder aus der Vielzahl an Zukunftserwartungen eindrucksvolle Zufallstreffer herausfiltern lassen (vgl. auch »Heute ist die Zukunft von Gestern« Teil I, II, III und VI).
Ein besonders eindrückliches Beispiel sind einige Vorhersagen aus dem Buch »The Information Machines: Their Impact on Men and the Media« (1971) des Journalisten Ben Haig Bagdikian, der im selben Jahr im Kontext der Veröffentlichung geheimer Pentagon-Papiere zum Vietnam-Krieg einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und später die Bestseller Media Monopoly und New Media Monopoly veröffentlichte. Das Buch selbst ist heute kaum mehr zu bekommen, aber aus einem Spiegel-Artikel (1972) lassen sich seine Kernthesen extrahieren. So prognostizierte Bagdikian z.B.:
»Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird eine neue Technologie mehr tägliche Informationen unter mehr Menschen streuen können als je zuvor in der Weltgeschichte.«
Geht es nach den führenden Web-Unternehmen, gehören selbstständige Exkursionen in die Tiefen des Netzes in einigen Jahren der Vergangenheit an und unser Online-Erlebnis wird maßgeblich durch eine durchgestylte All-in-One-Plattform bestimmt, die uns sowohl die Individualkommunikation in allen erdenklichen Formen, aber auch die alltägliche Medienrezeption durch allseits verständliche Personalisierungsoptionen in der Datenzulieferung erleichtert.
Und trotz aller Bedenken derer, die sich selbst einer intellektuellen Onliner-Elite zuordnen (Stichworte: Datenschutz, Monopolisierung, Verprivatwirtschaftlichung): Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches komplexitätsreduktives Angebot auf breites Interesse stösst, scheint gemessen an aktuellen Eurostat-Erhebungsdaten zu den Internet-Kenntnissen der europäischen Bevölkerung durchaus hoch zu sein: Auch 2010 verfügten z.B. in der BRD nur 8 Prozent der Befragten über ein hohes Online-Kompetenzniveau und 41 Prozent machten im Netz nicht vielmehr als E-Mails versenden und Suchmaschinen bedienen. Es bleibt also augenscheinlich lediglich die Frage offen, welches Unternehmen dieses All-in-One-Portal betreiben wird, und die Abstimmung um diese schöne neue Online-Welt erfolgt per Klick…
In einer aktuellen repräsentativen Studie des IT-Branchenverbandes BITKOM zum Datenschutz im Internet aus Nutzersicht (BRD 2011) stimmen 14 Prozent der befragten Onliner der Aussage zu, dass es »egal [ist], was mit meinen Daten im Internet geschieht« und 47 Prozent wissen schlicht nicht hinreichend darüber Bescheid, wie sie ihre Daten im Netz schützen können. Gleichzeitig legen allerdings 81 Prozent der Befragten (sehr viel) Wert auf Datenschutz im Web, darunter auch die 14 bis 29-Jährigen Intensivnutzer von sozialen Medien im Netz (80%). Weitere Ergebnisse der Studie folgen in einer kompakten Zusammenschau:
»Auch wenn einige Medienwissenschaftler_innen dem Social Web die Hervorbringung von Demokratisierung und Partizipationen absprechen (vgl.Münch/Schmidt 2005; Schrape 2010), möchte ich ein anderes Resümee ziehen: Da die Macht in allen gesellschaftlichen Teilen allgegenwärtig ist, ist sie auch veränderbar und umkehrbar. Das Selbst kann so Praktiken des Widerstands und der Gegenmacht entwickeln, um sich zu emanzipieren (vgl. Demirovic 2009: 10). Menschen könnten Selbsttechnologien variieren und soziale Praktiken […] neu bestimmen (vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling2000: 28). Medienentwicklung (als technischer Wandel) und eine Veränderung gesellschaflicher Strukturen (als kultureller Wandel) bedingen sich wechselseitig, wobei neue soziale Praktiken und Techniken einen langen Weg des Aushandelns und Ausprobierens gehen (vgl. Jäckel 2005; Rammert 2007; Ogburn1969) […].
Aktuell scheinen Social Media mit ihren interaktiven und vernetzten Plattformen ein medial alternatives Werkzeug für Freiräume und Gegenöffentlichkeiten anzubieten, das als sozio-technische Innovation in starre Herrschaffsregime eingreifen und Machtverhältnisse demokratisieren kann. (Vgl. Bryan/Tsagarousianou/Tambini 1998: 5)«
Wir befinden uns im Jahre 2011 n. Chr. Das ganze soziale Web ist von Facebook besetzt… Die ganze soziale Web? Nein! Einige von unbeugsamen Onlinern bevölkerte Länder hören nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten… Allerdings werden die Widerständler beständig weniger: Bis Juni 2011 konnten sich nur noch weite Teile von Asien und Brasilien gegen das gräuliche Facebook-Blau wehren (vgl. animierte Karte), das aufgrund der Farbenblindheit von Gründer Mark Zuckerberg entstanden ist (»The C.E.O. of Facebook wants to create, and dominate, a new kind of Internet«).