Web vs. Massenmedien: Zurück zum Kaffeehaus?
28. Juli 2011Tom Standage – um historische Vergleiche nie verlegen, wie schon sein Buch »Das viktorianische Internet« (1999, NZZ-Rezension) zeigt – hat diesen Monat in The Economist eine sehr lesenswerte Artikelserie zum Verhältnis von Internet und Print- bzw. Massenmedien veröffentlicht. Seine Kernthese lautet: Nach einer Phase der Massenmedien und des Gatekeeper-Journalismus bewegen wir uns nun durch Social Media im Web seit einigen Jahren wieder in die Richtung einer liberalen und partizipativen »Kaffeehaus«-Öffentlichkeit, ähnlich wie sie Richard Sennett für das Ancient Régime beschrieben hat. Und das heisst: »News is becoming a social medium again, as it was until the early 19th century—only more so«.
Quelle: http://www.oeaw.ac.at (verlinkt)
Die These ist nicht gerade neu: Standage selbst hat sie bereits 2004 in The Economist vertreten und den Gedanken in einem seiner Bücher spezifiziert, das sich mit »6 Getränken« beschäftigte, »die die Welt bewegten« (u.a. eben: Kaffee). Und vor ihm haben nicht nur viele »Web 2.0«-Evangelisten, sondern auch die Kommentatoren der ersten Online-Stunde das Ende der Massenmedien in ihrer herkömmlichen Form heraufbeschworen, denn schon das frühe Web entsprach augenscheinlich in idealer Weise den Hoffnungen der Kulturkritiker auf eine »Verschiebung der Intelligenz vom Sender zum Empfänger« (Negroponte 1995: 29): Das neue interaktive Medium befördere »das Ende der herkömmlichen Massenmedien« (Rötzer 1996: 119), es entstehe ein »partizipative[s] Massenkommunikationssystem« (Höflich 1996: 13), der Rezipient werde sich von nun an seine Inhalte selbst zusammenstellen und sich fortlaufend in das mediale Geschehen einmischen können (Negroponte 1995: 190).
Bislang allerdings weisen die empirischen Daten zumindest hierzulande kaum auf eine schnelle Erosion massenmedialer Strukturen hin (vgl. »Web 2.0 und Massenmedien: Visionen versus Empirie«). Und wie das oben verlinkte Bild zeigt, mussten schon Kaffeehäuser und Zeitungen kein Gegensatz sein: Jede raumübergreifende (Teil-)Öffentlichkeit benötigt Publikationen, die verteilt stattfindende Kommunikationsprozesse beobachten, einige ausgewählte Inhalte synthetisieren und das Produkt dieser Auswahlleistungen wiederum zur Diskussion stellen – dies galt auch schon für die von Sennett idealisierte Kaffeehaus‑Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert und ihre Wochenzeitschriften.
Ob Massenmedien und Social Media um Web in einem konkurrierenden oder doch eher in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen, ist eine viel diskutierte Frage (der Autor dieses Artikels vertritt letzteren Standpunkt) – und Tom Standage begründet seine Meinung ausführlich in der Artikelserie »Bulletins from the Future« (hier eine bündige Zusammenfassung). In der Interpretation der verwendeten empirischen Daten aber bleibt er m.E. recht unscharf (vgl. nachfolgende aus dem Artikel entnommene Grafik; vergrössern durch Klick):
Quelle: The Economist (verlinkt)
Wie bereits an anderer Stelle ausführlicher dargestellt, macht es zum einen wenig Sinn, hinsichtlich der Nachrichtenrezeption (»News Sources«) Zeitungen und Rundfunk-Medien pauschal mit »dem Internet« zu vergleichen, denn die etablierten massenmedialen Anbieter sind weitläufig im Netz vertreten und deren Online-Angebote gehören in den USA wie in der BRD zu den meist aufgerufenen Websites – was dann z.B. im Falle von Spiegel Online oder Bild.de lediglich für einen Wechsel des Trägermediums spräche. Eigentlich sollte also der News-Abruf über klassische Kanäle und über die Online-Portale etablierter Print- und Rundfunkanbieter mit der Nachrichtenrezeption via Social Media verglichen werden.
Zum anderen erscheint es gefährlich, die »Social-Media-Penetration« pauschal mit den sinkenden Auflagenzahlen der Printmedien in Bezug zu setzen: Nur weil Facebook und Twitter in GB, USA, BRD etc. weit verbreitet sind, lässt sich noch lange nicht der Schluss ziehen, dass sich die Onliner primär über diese Netzwerke mit den allgemeinen täglichen Nachrichten versorgen, denn die reinen Durchdringungsdaten sagen z.B. nichts darüber aus, in welcher Regelmäßigkeit und zu welchen Zwecken die einzelnen Nutzer darauf zugreifen (es könnte ja auch sein, dass das Interesse an ausführlichen Nachrichten generell abnimmt oder beispielsweise das Fernsehen den Printmedien zunehmend den Schneid abkauft).
Darüber hinaus suggeriert die Infografik, dass in China, Brasilien und Indien die Print-Welt gesund sei, weil dort die »Social-Media-Penetration« gering ist. Das aber wäre ein Fehlschluss. In diesen Ländern sind vielleicht Facebook und Twitter nicht populär, dafür aber andere Anbieter (vgl. die Social-Media-Weltkarten): In China z.B. ist das Social Network QZone weit verbreitet und in Brasilien ist es Orkut. Abgesehen davon besteht die Social-Media-Welt ja nicht nur aus den kontrolliert-öffentlichen Portalen der derzeit marktführenden Anbieter (die Bestandteil ökonomischer Wertschöpfungsketten sind), sondern z.B. auch aus zahlreichen privatgeführten Blogs und Homepages (es könnte also sein, dass die Social-Media-Durchdringung in den aufgeführten Ländern bei einer umfassenderen Aufschlüsselung durchaus miteinander vergleichbar sind und die Unterschiede in der Auflagenentwicklung auch auf ganz andere – z.B. wirtschaftliche oder soziokulturelle – Faktoren zurückgeführt werden können).