Heute ist die Zukunft von gestern XIII: Der Mythos der Maschine (Lewis Mumford)
21. Mai 2013Wer Lewis Mumfords »The Myth of the Machine« (1967/70; dt. 1974) kennt, braucht in Sachen Technikskepsis die Schirrmachers und Spitzers unserer Zeit nicht mehr zu lesen: Mumfords Monumentalwerk (einsehbar auf Scribd) wurde lange als Steinbruch für kulturpessimistische Aussagen par excellence genutzt; es spielt aber heute im Diskurs um die Digitaltechnologien augenscheinlich kaum mehr ein Rolle (was sich auch daran ablesen lässt, dass derzeit keine Neuauflage angeboten wird).
Tatsächlich geben sich mithin nur wenige der über 800 Seiten pauschaler Technikkritik hin, während ihr Großteil die parallelen Entwicklungslinien menschlicher Werkzeuge bzw. Maschinen und Organisationsweisen nachzeichnet. Insofern lässt sich Mumfords Darstellung einerseits als Zeitdokument lesen, andererseits finden sich darin aber auch Argumentationsgänge, die heute noch zum Nachdenken anregen können.
Mumford geht es darum, die Entstehung jener (unsichtbaren) »Megamaschine« nachzuvollziehen, mit der er die dominanten Wirtschafts- und Lebensweisen in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft umschreibt: Sie sei einzig auf quantifizierbaren Fortschritt ausgerichtet und übe auf den Einzelnen eine in der Regel kaum hinterfragte Autorität aus. Die Ursprünge dieser »Megamaschine« verortet Mumford jedoch nicht im Aufkommen kapitalistischer Wirtschaftsweisen, sondern in den antiken Hochkulturen – u.a. zur Bauzeit der ägyptischer Pyramiden:
[224] »Waren die ägyptischen […] Bergbaukolonnen militärische oder zivile Organisationen? Anfangs waren diese Funktionen nicht unterscheidbar oder, besser gesagt, austauschbar. […] ›Der ägyptische Beamte‹, bemerkt Erman, ›kann diese Leute nur als Kollektiv sehen; der individuelle Arbeiter existiert für ihn ebensowenig, wie der individuelle Soldat für unsere höheren Armeeoffiziere existiert.‹ […] Dies war das Urmuster der Megamaschine und wurde nie radikal geändert.
[274] »Ob von der Peitsche des Aufsehers oder vom unerbittlichen Lauf des modernen Fließbands angetrieben, sorgen die von der Megamaschine abgeleiteten Prozesse für Schnelligkeit, Gleichförmigkeit, Standardisierung und Quantifizierung.«
Nicht nur die Arbeiter und Beherrschten, auch die Herrscher und Könige unterlagen Mumford zufolge bereits in der Antike dem »Mythos der Maschine« beziehungsweise dem »Glaube[n], daß diese Maschine von Natur aus unbezwingbar sei – und doch, vorausgesetzt, daß man sich ihr nicht widersetzte, letztlich segensreich« [258].
Das sich im 17. Jahrhundert entwickelnde mechanistisch-naturwissenschaftliche Weltbild (und die nachkommenden Erfindungen) beschreibt Mumford als Grundlage für die »verbesserte Megamaschine des zwanzigsten Jahrhunderts« [476] – also sozusagen für den ›Mythos der Maschine 2.0‹:
[476] »[…] die besten Denker des siebzehnten Jahrhunderts konnten sich nicht vorstellen, wie das Leben sein würde, sobald mit Hilfe ihres […] Weltbilds eine Gesellschaft entstanden war, die dessen begrenzten Prämissen entsprach […]. In ihrer Vorstellung von einer gesellschaftlichen Organisation, die umfassenden Gebrauch von Maschinen machen konnte, war nicht enthalten, daß die Gesellschaft selbst zunehmend die Züge einer automatischen Maschine annehmen würde, betrieben von Menschen, die, selber von der Maschine geprägt, in einem maschinell erzeugten Lebensraum für rein abstrakte, mechanisch-elektronische Ziele leben.
[525f.] Was ich bis jetzt bewußt vage als den Mythos der Maschine bezeichnet habe, möchte ich nun genauer als Machtkomplex definieren: eine neue Konstellation von Kräften, Interessen und Motiven, die schließlich die alte Megamaschine wiederbelebte und ihr eine vollendetere technologische Struktur gab […]. Im Sinne des Machtsystems bedeutet Fortschritt einfach mehr Macht, mehr Profit, mehr Produktivität, mehr Eigentum, mehr Publizität – die alle in quantitativen Einheiten konvertierbar sind.«
Aus der Sicht Mumfords hat dieser Hang zur Quantifizierung alle anderen menschlichen Werte und Normen in den Hintergrund gedrängt – und im Zeitalter von automatisch generierten Indizes bzw. Rankings in beinahe allen Bereichen (z.B. zu Social-Web-Aktivitäten) stellt sich die Frage, was Mumford (1995–1990) wohl zu der heutigen Dominanz algorithmischer Strukturen zu Protokoll gegeben hätte.
Tatsächlich spielt der Computer in »Mythos der Maschine« als ein weiterer Schritt der Automatisierung bereits eine tragende Rolle – wohl auch, da der zweite Band kurz nach dem weltweiten Kinoerfolg »2001: Odyssee im Weltraum« [417] fertiggestellt worden war. Mumford kommt in der Beschreibung der ›Megamaschine‹ sowie ihrer künftigen Entwicklung immer wieder auf Computertechniken zu sprechen und sieht deren entscheidendes Merkmal darin, »daß ihre Kräfte und Funktionen abgeleitet sind: Ihre zunehmend lebensähnlichen Eigenschaften sind alle aus zweiter Hand«:
[649] »Leider kann Computer-Wissen […] nicht so wie das menschliche Gehirn in ständiger Fühlung mit dem unendlichen Strom der Wirklichkeit bleiben; denn nur ein kleiner Teil der Erfahrung läßt sich in abstrakten Symbolen ausdrücken und festhalten. Veränderungen, die nicht quantitativ gemessen oder objektiv beobachtet werden können, […] liegen außerhalb der Reichweite des Computers.
[650] […] in naher Zukunft wird […] der Computer […] in der Lage sein, jede Person auf der Erde augenblicklich zu finden und […] anzusprechen; er kann jede Einzelheit im täglichen Leben des Untertanen kontrollieren, anhand eines Akts, in dem alles verzeichnet ist […]. […] jede Lebensäußerung würde in den Computer eingefüttert und unter dessen allumfassendes Kontrollsystem gebracht werden. Dies würde nicht nur die Invasion der Privatsphäre bedeuten, sondern die totale Zerstörung der menschlichen Autonomie […]. Vor fünfzig Jahren wäre diese Beschreibung allzu grob und übertrieben erschienen, um auch nur als Satire akzeptiert zu werden […].«
Von den neuen Medien seiner Zeit und den damit verbundenen Prophetien (z.B. McLuhans global village) zeigt sich Mumford überdies alles andere als begeistert, hebt wie Enzensberger die vorherrschende einbahnige Nutzung damaliger elektronischer Medien hervor und wünscht sich eine neue, flexibele Technologie, die sich in den unterschiedlichsten Kommunikationssituationen einsetzen ließe:
[676f.] »Echte Kommunikation, sei sie mündlich oder schriftlich, flüchtig oder beständig, ist nur zwischen Menschen möglich, die einer gemeinsamen Kultur angehören und dieselbe Sprache sprechen; und wenngleich dieser Bereich durch Sprachkenntnisse und Erweiterung des kulturellen Horizonts mittels Reisen und persönlicher Kontakte vergrößert werden kann und soll, ist die Vorstellung, daß alle diese Beschränkungen fallen könnten, eine elektronische Illusion.
[…] Die elektronischen Medien heben zwar die Entfernungen oberflächlich auf, aber sie haben gezeigt, welch hohen Preis die bloße Vortäuschung einer mehrdimensionalen Kommunikation erfordert. In der echten Kommunikation hat jeder Faktor seine eigene spezifische Rolle zu spielen: die sichtbare Geste, das direkt gesprochene Wort, die geschriebene Botschaft, das gemalte Bild, das gedruckte Buch, das Radio, der Plattenspieler, das Tonbandgerät und das Fernsehen.
Anstatt diese verschiedenen Multimedien einzig durch Fernsehen, Radio und den Computer zu ersetzen, sollte eine hochentwickelte, leistungsfähige Technologie danach trachten, sie alle zu erhalten […]. Was not tut, ist eine Technologie, die so mannigfaltig, so vielseitig, so flexibel ist und auf menschliche Bedürfnisse so schnell reagiert, daß sie jedem legitimen menschlichen Zweck dienen kann.«
Zumindest auf technischer Ebene sind wir diesem Multimedium mit dem Web (2.X) wohl näher gekommen; ebenso aber haben wir eine neue Stufe der Quantifizierung und Mechanisierung erreicht, die es qua Mumford zu bekämpfen gilt, um künftige Technologien – ganz im Sinne des mittlerweile prominenten Begriffs der Nachhaltigkeit – natur- und menschenverträglicher auszurichten [718ff.].
Doch wie könnten wir uns nun aus dem »Banne des Mythos der Maschine« befreien, wenn bislang (Stand 1970) »weder die allgemein bekannten Verheerungen eines Weltkriegs noch die Gefahr einer Atomkatastrophe […] die Menschheit veranlaßt [haben], ausreichende Schritte zu ihrem eigenen Schutz zu unternehmen« [803]? Den Alltag tangierende Katastrophen (z.B. die Zerstörung der Umwelt) reichen Mumford zufolge nicht aus, um massenhafte Bereitschaft zur Umbesinnung zu provozieren, denn ein »Programm, das geeignet ist, den destruktiven Erfolg des technologischen Überflusses umzukehren, wird nicht nur drastische Einschränkungen erfordern; es werden ökonomische und soziale Veränderungen notwendig sein […]« [806]. Er rät daher zu einer »Bekehrung vom mechanischen Weltbild zu einem organischen, in welchem die menschliche Persönlichkeit […] jenen Vorrang erhält, den jetzt Maschinen und Computer haben« [807]. Etwas konkreter wird Mumford im Epilog seines Buches:
[816] »Diese Analyse […] beruht auf der Überzeugung von der unbedingten Notwendigkeit, die subjektiven und die objektiven Aspekte der menschlichen Erfahrung miteinander zu versöhnen […]. Das kann nicht dadurch zustandekommen, daß man entweder die Religion oder die Wissenschaft ablehnt, sondern, indem man sie beide von ihrem obsoleten ideologischen Nährboden löst […]. […] Wollen wir die Technik vor den Verirrungen ihrer heutigen Repräsentanten […] retten, dann müssen wir in unserem Denken wie in unseren Handlungen zum Menschen als Mittelpunkt zurückkehren: Hier beginnen und enden alle bedeutenden Transformationen.
[831] Die ersten Anzeichen einer solchen Transformation werden in einem inneren Wandel bestehen […]. Jeder von uns kann, solange das Leben sich in ihm regt, in der Befreiung vom Machtsystem eine Rolle spielen, indem er in stillen Akten geistiger und physischer Lossagung – in Gesten der Nichtübereinstimmung, der Enthaltung, der Selbsteinschränkung und -hemmung […] sein Primat als Person geltend macht. […] Nichts könnte dem Mythos der Maschine […] gefährlicher werden als ein stetiger Entzug des Interesses, eine stetige Verlangsamung des Tempos, eine Beendigung der sinnlosen Gewohnheiten und gedankenlosen Handlungen.
[832] Wenn der Augenblick gekommen ist, Macht durch Fülle, äußerliche Zwangsrituale durch innerliche Selbstdisziplin, Entpersönlichung durch Persönlichkeitsbildung, Automation durch Autonomie zu ersetzen, dann werden wir sehen, daß die notwendige Änderung von Haltung und Zielsetzung unter der Oberfläche schon seit hundert Jahren im Gang ist […].
[834] Hält die Menschheit sich an die von der technokratischen Gesellschaft gestellten Bedingungen, dann bleibt ihr nichts anderes übrig, als deren Pläne für einen beschleunigten technischen Fortschritt mitzumachen, […] um die sinnlose Existenz der Megamaschine zu verlängern. Doch an denen von uns, die den Mythos der Megamaschine abgeschüttelt haben, liegt es, den nächsten Schritt zu tun: Denn die Tore des technokratischen Gefängnisses werden sich trotz ihrer verrosteten alten Angeln automatisch öffnen, sobald wir uns entschließen, hinauszugehen.«
Aus der Sicht eines Kindes der 1980er Jahre, das mit Computern und all den anderen Komponenten der ›Megamaschine‹ aufgewachsen ist, stolpere ich mitunter über Mumfords barocke Formulierungsweisen, die sich im englischen Original ähnlich lesen, ein vielleicht zeittypisches Unbehagen ausdrücken und weit eindeutiger als viele neuerliche Texte für sich in Anspruch nehmen, zwischen hell und dunkel unterscheiden zu können. Dennoch aber lohnt es sich m.E. gerade in der heutigen Zeit, sich mit Mumfords Diagnosen auseinanderzusetzen und zu hinterfragen, inwieweit seine Befürchtungen, aber auch seine im Epilog explizierten Hoffnungen auf ein allmähliches Umdenken durch die zurückliegenden Entwicklungen mittlerweile bestärkt, ein- oder aufgelöst worden sind. Für beide Stränge gibt es Evidenzen.