Niklas Luhmann über Protest — Teil 2

11. Februar 2013

Niklas Luhmann hat sich theoriearchitektonisch zu vielerlei Gelegenheiten an ›sozialen Bewegungen‹ gerieben (siehe auch: Niklas Luhmann über Protest — Teil 1). In einem Interview mit Kai-Uwe Hellmann im Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 2/1994 (S. 54ff., kostenfreies PDF) gab er dazu u.a. folgende Gedankengänge zu Protokoll (letzterer Abschnitt ist v.a. mit Blick auf die Piratenpartei interessant):

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»Wie läßt sich […] die operationale Schließung autopoietischer Systeme […] bei sozialen Bewegungen nachvollziehen?

Wenn man sich an dem Protestbegriff orientiert, kann man Einheiten […] herausgreifen, die sich selber von der Umwelt abgrenzen, indem sie sich bestimmte Protestthemen herausgreifen und diese kommunikativ behandeln, so daß eine Kommunikation als zugehörig oder nicht zugehörig erkennbar ist, je nachdem, ob ein bestimmtes Protestthema, sagen wir in der Friedensbewegung oder in den ökologischen Bewegungen oder in den rechtsradikalen Bewegungen, durchgehalten wird.

[…] Man kann ja nicht protestieren, ohne zu sagen, wogegen oder weshalb, so daß sich aus der Orientierung an einem Protest immer die Notwendigkeit ergibt, ein Thema zu ergreifen. […] Sie haben […] ein Protestthema, und ihre Differenz ist dann: ›Wir oder die Gesellschaft‹, ›Wir‹ und das, was andernfalls geschehen würde, wenn ›Wir‹ nicht auftreten, und dies zwingt schon im Protestthema zu Konkretisierung.

[…]

Wie beziehen sich soziale Bewegungen nun auf Folgeprobleme funktionaler Differenzierung, und inwiefern kann man da von einer Funktion sprechen? Sie haben das ja vorhin schon angedeutet: Kritik der Funktionssysteme?

Zunächst einmal: Die beiden Aspekten hängen eng zusammen, weil die sozialen Bewegungen sich ja nicht vornehmen, selbst die Dysfunktionen der Funktionssysteme zu beseitigen. […] Es geht darum, Aufmerksamkeit zu gewinnen für Probleme, die die Funktionssysteme strukturell nicht lösen können oder schlecht lösen. Man spricht dann von Krise und meint, es könnte alles besser gemacht werden […].

[…] Die sozialen Bewegungen haben es mit einer gewissen Ökonomie der Aufmerksamkeit zu tun, d.h. sie müssen Aufmerksamkeit gewinnen für ihre Ziele, und das ist praktisch eine Funktion der Massenmedien, ohne die sie ihre Ziele gar nicht erreichen könnten. Umgekehrt können sie über die Massenmedien sehr schnell Themen kreieren und Themen durchsetzen, die nicht gesprächsweise verbreitet werden könnten.

[…] Soziale Bewegungen bieten die Chance eines Realitätstestes der modernen Gesellschaft, die sich in den Funktionssystemen nur sehr selektiv selber beschreiben kann. Es gibt keine Gesamtbeschreibung, es gibt das, was die Massenmedien beschreiben […] und die sozialen Bewegungen haben dann die Funktion, Realitäten anderer Art ins Gespräch zu bringen, indem sie Widerspruch anmelden, etwa in der Frage, wie die Frauen behandelt werden, oder wie die Rüstungsindustrie auf Steuersubventionen reagiert. […]

[…]

Sie haben […] die Überlegung angesprochen, daß funktionale Differenzierung an Grenzen stößt, Grenzen der Kapazität, Grenzen der Lösung von Problemen, die sie selbst produziert. Könnte das darauf verweisen, daß das primäre Differenzierungsprinzip moderner Gesellschaften sich ändert? Könnten soziale Bewegungen vielleicht ein Indiz dafür sein, dass sich ein Engpass entwickelt?

Keine Gesellschaft kann voraussehen, welcher Differenzierungstyp nach ihr kommt. Einerseits kann ich mir selbst nicht vorstellen, wodurch man funktionale Differenzierung ersetzen könnte, außer im Sinne einer Katastrophe, die also das Lebensniveau deutlich absenkt und dadurch die Menge der Bevölkerung reduziert, was sich demographisch auswirken müßte. Was aber zunimmt in der gesellschaftlichen Realität, ist eine gewisse selbstkritische Neuperspektivierung der Funktionssysteme selbst, zum Beispiel in der Ökonomie: Seitdem wir die Planwirtschaft nicht mehr neben uns haben, haben wir auch das Vertrauen in die Marktwirtschaft verloren.

[…]

Vor diesem Hintergrund vermehrt sich einstellender Kontingenzen, auch in der Selbstbeschreibung der Funktionssysteme: Wie schätzen Sie da die Zukunft sozialer Bewegungen ein?

Man könnte die Frage so stellen: Werden die sozialen Bewegungen aufgesogen, werden sie völlig in die Funktionssysteme aufgenommen? Das sehe ich noch nicht. Vor allem sehe ich einen zu engen Zusammenhang zwischen der Rationalität der Funktionssysteme einerseits und ihren fatalen Konsequenzen andererseits, so daß dieser Konflikt eigentlich nicht oder nur als paradoxe Selbstbeschreibung innerhalb der Funktionssysteme ausgetragen werden könnte. Wenn man zum Beispiel die Unterscheidung Entscheider/Betroffene nimmt, und davon ausgeht, daß ein Funktionssystem Opportunitäten, Gelegenheiten ja nur nutzen kann, wenn es Risiken eingeht, wie will man dann den sozialen Bewegungen gerecht werden, die nur die Betroffenheit thematisieren? Wie soll das innerhalb des Entscheidungsmodus der Funktionssysteme geschehen?

[…]

Es gibt eine neuere Arbeit von Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht, die vom ›Weg in die Bewegungsgesellschaft‹ sprechen und damit meinen, daß sich dieses Phänomen stabilisiert, wenn auch nicht institutionalisiert, in Form einer Organisation.

Richtig, das ist jedenfalls das, was von der Beobachtungsperspektive des Moments, von der jetzigen Situation aus, die wahrscheinlichere Fassung ist, wahrscheinlicher als umgekehrt: Daß alles letztlich innerhalb der Funktionssysteme aufgesogen wird, was man sich natürlich vorstellen kann im politischen Bereich: Daß sich etwa die Parteienstruktur diesem Phänomen anpasst, daß es also Parteien gibt, die im wesentlichen die Interessen der sozialen Bewegungen zu ihren eigenen machen […].

Das wird ja ziemlich unübersichtlich werden in Zukunft, fünf oder sechs Parteien…

Ja, und sie müssen alle ein Universalprogramm haben, sie müssen ja auch für die Außenpolitik, auch für Bereiche, die mit der Protestthematik ihrem Ursprung nach nichts zu tun haben, Konzepte anbieten, und sie müssen Koalitionen eingehen können. Es scheint überall das Phänomen zu sein, daß die Funktionssysteme gleichsam Dellen bekommen oder auch beeindruckbar sind durch Probleme und ernsthafter experimentieren müssen mit Politiken oder mit Wirtschaftsprogrammen, auf die sie nicht von selbst gekommen wären, auf die sie von außen gestoßen werden… aber ich glaube nicht, daß das ausreichen wird, um die Regenerierung neuer sozialer Bewegungen zu verhindern, es wäre auch eigentlich fragwürdig, warum. […]«