Luhmann: »Intellektueller Schrotthandel«
12. Dezember 2011Seit mindestens vier Jahrzehnten lässt sich der Eindruck gewinnen, dass unsere Gesellschaft in einem immer rascheren Takt von (technischen) Innovationen überrollt wird (vgl. schon Beinhauer & Schmacke 1971), die kaum ›einen Stein auf dem anderen‹ lassen. Und natürlich haben z.B. neue Medien in vielen Fällen weitreichende Auswirkungen; in genauso vielen Fällen aber provozieren sie Beschreibungsmythen, übersteigerte Hoffnungen oder markerschütternde Dystopien.
Niklas Luhmann (u.a. Soziologe, Humorist, Zukunftsforscher) bezeichnete u.a. derartige Überzeichnungen, die sich auch in der Wissenschaft finden lassen, als
»intellektuelle[n] Schrotthandel, der […] seine Bedarfsartikel nur noch durch die Firmennamen ›Neo‹ und ›Post‹ unterscheidet. Man kann in dieser Form zum Beispiel über die ›postindustrielle‹ Gesellschaft reden, obwohl ganz offensichtlich industrielle Produktion nach wie vor existiert und sogar mehr als zuvor unentbehrlich ist.
Neomarxismus, Poststrukturalismus, Neofunktionalismus, Neokonservativismus oder mit Sachbezeichnungen: neue soziale Bewegungen, neuer Individualismus, neue Medien. Die Struktur ist in allen Fällen dieselbe: Die Behauptung einer zeitlichen Differenz und ihr Nachweis an Einzelphänomenen erlaubt es, ohne Gesamtanalyse weiterzuarbeiten und das gerade Neue (oder das, was dafür gehalten wird) als Wesentlichkeitsersatz in den Mittelpunkt der Gesellschaftsbeschreibung zu rücken.«
Als Beispiel für die Behauptung einer zeitlichen Differenz, wie sie in der zitierten Passage beschrieben wird (GdG, S. 1096), kann z.T. auch die vielerseits postulierte Ablösung der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft durch netzwerkartige Strukturen herangezogen werden: Soziale Netzwerke sind nicht erst seit dem Aufkommen der neuen Kommunikationstechniken ein dominanter Modus sozialer Morphologie, wie sich u.a. anhand der Schriften von Norbert Elias nachvollziehen lässt, und entsprechende relationale Beschreibungen daher per se auch keine »revolutionäre Art, Personen und Gesellschaft zu denken«.
Die erneute Aufmerksamkeit, die soziale Netzwerke in der sozialwissenschaftlichen Analyse seit einiger Zeit genießen, lässt sich vielmehr in einer Verschiebung des Beobachtungsinteresses und der damit verknüpften Untersuchungsperspektiven begründen: Die Systemtheorie luhmannscher Prägung fokussiert die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion und beschäftigt sich mit sozial kristallisierten emergenten (funktionalen) Sinnsystemen, an denen sich die Kommunikation – sei es in Netzwerken, Organisationen oder Interaktionen – je nach Kontext wechselnd ausrichten kann. Die Netzwerksoziologie hingegen bewegt sich auf der Ebene von Beziehungsnetzen zwischen (individuellen) Akteuren und legt einen ihrer Schwerpunkte (wie schon Elias) mitunter auch auf die Konstruktion von Sinn in diesen Transaktionsprozessen. Insbesondere die neuere relationale Soziologie (Fuhse/Mützel 2010, S. 10) ist sich denn auch bewusst darüber, dass sie ihr soziologisches Skalpell an anderer Stelle ansetzt als die Systemtheorie und sich die zwei theoretischen Perspektiven durchaus wechselseitig befruchten können.
Funktionale Differenzierung (bzw. polykontexturale Weltbeschreibung) und soziale Netzwerke schließen sich also keineswegs aus. Verbreitete Beobachtungen, dass die ›neue‹ Netzwerkgesellschaft durch eine zunehmende Überforderung der funktional differenzierten Ordnung gekennzeichnet ist und die »Macht der Ströme […] Vorrang vor den Strömen der Macht« erhalten werde (Castells 2001: 429, 435), ließen sich qua Luhmann also durchaus als ›intellektuelles Recycling‹ bezeichnen, denn sie sind nicht so ›neu‹ wie es auf den ersten Blick scheint – zumal Castells wesentliche Konzepte, die er heute mit der digitalen Netzwerkgesellschaft verknüpft, bereits in den 1970/80er Jahren als Vertreter der marxistisch geprägten New Urban Sociology entwickelt hat.
Niklas Luhmann selbst setzte sich u.a. in Organisation und Entscheidung (2000) übrigens durchaus mit sozialen Netzwerken auseinander:
»(408) Netzwerke bilden sich auf der Basis von konditionierter Vertrauenswürdigkeit. […] Sie können sich zu eigenen sozialen Systemen verdichten, wenn sie klare Grenzen und eine eigene rekursiv verwendbare Geschichte erzeugen und das netzwerktypische Vertrauen darauf stützen. Aber es gibt auch, und nur das rechtfertigt einen besonderen Begriff, andere Vertrauensgrundlagen, zum Beispiel rein personale. Hierfür ist die relative Konstanz, also ein nicht zu häufiger Wechsel des Personals wichtig. Außerdem wird auf die Bedeutung eines verdichteten institutionellen Kontextes [..] hingewiesen.
(410) Die zunehmende Aufmerksamkeit für Netzwerke ergibt sich aus der Beschleunigung und der wachsenden Tiefenschärfe von Strukturänderungsmöglichkeiten innerhalb des eigenen und innerhalb anderer Systeme. Mehr als zuvor sieht man, was aber immer schon der Fall war,dass ›die Umwelt‹ nicht einfach nur ›der Markt‹ oder ›die öffentliche Meinung‹ ist, sondern aus unterscheidbaren Systemen besteht, die als solche agieren und als solche eingeschätzt sein wollen. Die System/Umwelt-Unterscheidung ist durch die System-zu-System-Unterscheidung zu ergänzen – aber nicht zu ersetzen.
(411) Es ist heute offensichtlich unangemessen, die Gesellschaft mit traditionellen Theoriemitteln zu beschreiben […]. Statt weiterhin die Einheit als Problem zu sehen, könnte man die Problemstellung von Einheit auf Differenz verschieben, das heißt: in die Erhaltung und Reproduktion der Ausdifferenzierung von Systemen auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Denn dann sähe man zugleich, dass die Bildung von Systemgrenzen übergreifenden Netzwerken voraussetzt, dass Systeme als distinkte Einheiten, die sich selbst reproduzieren, überhaupt existieren.«