Orientierungsrealitäten (Tagesschau, Wikipedia)
14. November 2011Vor fast 20 Jahren hat Miriam Meckel am Beispiel der Tagesschau empirisch bestätigt, dass in der massenmedialen Berichterstattung ein sehr selektives Bild der Welt gezeichnet wird: In einem Vergleich der Anteile der Weltregionen an der täglichen Berichterstattung der ARD-Nachrichtensendung stellte Meckel (1994: 296) fest, dass 94% der Berichte auf Entwicklungen in Europa und Nordamerika eingingen, während die anderen Kontinente kaum Erwähnung fanden (Südamerika, Afrika, Asien, Australien: jeweils unter 2%; Nahost: 3,1%) – und der »Tagesschau Nachrichten-Weltatlas« zeigt, dass sich dies daran bis heute nicht viel geändert hat (vgl. auch eine Karte zur ›Weltsicht‹ des britischen Guardians).
Zudem kam Schmitz (1995: 226; vgl. hier: S. 127ff.) ungefähr zur selben Zeit in sprachwissenschaftlichen Analysen zu dem Schluss, dass sich aus dem »enzyklopädischen Bestand der Tagesschau keine ganze, sondern nur eine desintegrierte Welt bauen« ließe und Niklas Luhmann führte vor dem Hintergrund seines erkenntnistheoretischen Theorierahmens (eine Hinführung findet sich in dem verlinkten Artikel) deutlich vor Augen, dass schlichtweg jedwede Wirklichkeitsbeschreibung durch Selektivität sowie Komplexitätsreduktion, also – wenn man so will – durch ›Verzerrung‹, gekennzeichnet ist (vgl. den Post »Unterschiedliche Beobachtungsperspektiven«), und es dementsprechend wenig Sinn macht, zu fragen, inwieweit die Massenmedien ›wirklichkeitsadäquat‹ berichten: »Sie erzeugen […] eine Weltkonstruktion und das ist die Realität, an der sich die Gesellschaft orientiert.«
Nun hält sich bekanntlich die Überzeugung recht wacker, dass sich durch die partizipative Generierung von Inhalten ein ausgeglicheneres Bild gesellschaftlicher ›Tatbestände‹ oder auch ›der Welt‹ zeichnen ließe – und als Paradebeispiel wird gerne die Wikipedia genannt. Eine aktuelle Visualisierung der in den Wikipedia-Artikeln vermerkten Geopositionen (u.a. durch Mark Graham) führt allerdings zu dem Eindruck, dass sich zumindest das Ungleichgewicht zwischen den Weltregionen auch in der Open-Content-Enzyklopädie fortschreibt. Die gelben Markierungen zeigen, über welche Regionen in der jeweiligen Wikipedia berichtet wird (vgl. Quellen: für englischsprachige WP; für deutschsprachige WP).
Natürlich gibt eine solche Karte keinerlei Auskunft darüber, wie tiefenscharf über eine Region berichtet wird oder wie multidimensional Themen und Lemmata in der Enzyklopädie behandelt werden (und was das für einen Unterschied zu klassischen Lexika macht) – aber die Visualisierung zeigt, dass sich eine grundsätzliche Selektivität, Nivellierung und ›Verzerrung‹ in der allgemeinen Weltbeschreibung auch im Kontext einer offenen Enzyklopädie nicht vermeiden lässt. Oder wie es Niklas Luhmann formuliert hat: Letztlich lassen sich eben »keine Weltkenntnisse, sondern nur polykontexturale Beschreibungen« erstellen.