»Social Web: Macht durch FreiRaum« (?)
24. Juni 2011Benjamin Mattausch hat im aktuellen Soziologie Magazin einen interessanten Artikel zur Einflusskraft des Social Web veröffentlicht, auf den hier kurz verwiesen werden soll, zumal er eine gegenteilige Position zu NDiN einnimmt:
»Auch wenn einige Medienwissenschaftler_innen dem Social Web die Hervorbringung von Demokratisierung und Partizipationen absprechen (vgl.Münch/Schmidt 2005; Schrape 2010), möchte ich ein anderes Resümee ziehen: Da die Macht in allen gesellschaftlichen Teilen allgegenwärtig ist, ist sie auch veränderbar und umkehrbar. Das Selbst kann so Praktiken des Widerstands und der Gegenmacht entwickeln, um sich zu emanzipieren (vgl. Demirovic 2009: 10). Menschen könnten Selbsttechnologien variieren und soziale Praktiken […] neu bestimmen (vgl. Lemke/Krasmann/Bröckling2000: 28). Medienentwicklung (als technischer Wandel) und eine Veränderung gesellschaflicher Strukturen (als kultureller Wandel) bedingen sich wechselseitig, wobei neue soziale Praktiken und Techniken einen langen Weg des Aushandelns und Ausprobierens gehen (vgl. Jäckel 2005; Rammert 2007; Ogburn1969) […].
Aktuell scheinen Social Media mit ihren interaktiven und vernetzten Plattformen ein medial alternatives Werkzeug für Freiräume und Gegenöffentlichkeiten anzubieten, das als sozio-technische Innovation in starre Herrschaffsregime eingreifen und Machtverhältnisse demokratisieren kann. (Vgl. Bryan/Tsagarousianou/Tambini 1998: 5)«
Da im Fazit des Artikels darauf verwiesen wird, möchte ich anmerken, dass ich keineswegs pauschal »dem Social Web die Hervorbringung von Demokratisierung und Partizipationen« abspreche, aber ich plädiere dafür, sehr genau hinzuschauen, welche Bevölkerungsteile auf welche Angebote im Web zu welchen Zwecken und in welcher Intensität zugreifen. Und die gegenwärtig empirisch beobachtbaren Nutzungsmuster sprechen nunmal nicht unbedingt dafür, dass das Netz und seine Potentiale von der breiten Öffentlichkeit so genutzt werden, wie sich viele Visionäre seit Mitte der 1990er Jahre erhoffen.
Selbstverständlich kann sich das auf lange Sicht ändern, aber es erscheint doch einigermaßen problematisch, die Nutzungsweisen der early adopters von Social Media, also einer kleinen spezifischen (und tendenziell formal hochgebildeten) Teilöffentlichkeit, mehr oder weniger linear auf die zukünftige Gesamtbevölkerung zu verlängern oder aus den Fernbeobachtungen zu Entwicklungen in autoritären Regimen Rückschlüsse auf die Einflusskraft von Social Media in liberalen Gesellschaften zu ziehen. So entstehen überhöhte Veränderungshypothesen, die den Blick auf die in realiter viel graduelleren Transformationsverläufe verstellen.
Wichtig bleibt bei allen hehren Wünschen eine differenzierte Beobachtung der Kommunikation im Web und deren Wechselwirkungen mit der Offline-Welt. Daher möchte ich abschließend noch kurz auf die Nennung von Wikileaks als scheinbares Beispiel dafür eingehen, dass »Social Media als mögliche technische Träger für Gegenöffentlichkeiten fungieren«:
Immer wieder wird WikiLeaks als ein Beispiel für die transparenzfördernde Wirkung des Internet genannt. Zumindest im Falle der als »Cablegate« betitelten Veröffentlichung US-amerikanischer Botschaftsdepeschen bleibt es allerdings fraglich, inwieweit ausgerechnet WikiLeaks als Vorbote transparenterer Öffentlichkeitsstrukturen gelten kann: Die 250.000 vertraulichen Dokumente, die der Plattform im Sommer 2010 zugespielt wurden, erfuhren bis heute keine ungefilterte Veröffentlichung (Stand 5/2011: 13.000 freigegebene Cables) und die ersten 220 durch WikiLeaks publizierten Depeschen waren der Le Monde-Chefredakteurin Sylvie Kauffmann zufolge das Auswahlprodukt der fünf internationalen Printmedien, die am 28./29. November zuerst über die Inhalte der Dokumente berichten durften, namentlich El País (Spanien), Le Monde (Frankreich), Der Spiegel (Deutschland), The Guardian (Großbritannien) sowie The New York Times (USA): »They are releasing the documents we selected«.
Unabhängig davon, ob nun finanzielle Interessen, das Vertrauen in die journalistische Kompetenz oder schlicht Publicity-Überlegungen die Entscheidungen der Aktivisten gelenkt haben sollten: WikiLeaks fungierte im Kontext des »Cablegate«-Skandals keineswegs als Statthalter einer egalitäreren oder transparenteren Internet-Öffentlichkeit, sondern letztlich als klassische Vermittlerorganisation zwischen einem oder mehreren anonymen Informanten und den etablierten Massenmedien. Die Blogosphäre konnte sich allenfalls darüber freuen, dass die entsprechende Spiegel-Ausgabe einen Tag zu früh an einem Kiosk in Basel ›geleakt‹ ist, ansonsten blieb ihr zunächst nur die Diskussion um die bereits massenmedial veröffentlichten Analysen der Botschaftsdepeschen. (Ausschnitt aus einem Manuskript)