Wikipedia und die »Weisheit der Vielen«
15. Januar 2011Heute feiert die Wikipedia ihren 10. Geburtstag und gehört seit 2009/2010 zu den 10 meistaufgerufenen Webangeboten weltweit. 2004 hätte das indes fast noch keiner gedacht wie exemplarisch ein neugieriger aber auch zurückhaltender »Spiegel«-Artikel aus dieser Zeit zeigt: »Das Online-Lexikon hat jedoch auch einige Nachteile gegenüber herkömmlichen Enzyklopädien: Das Themenspektrum ist längst nicht so ausgewogen […]. Entscheidend ist: Eine Garantie für die Korrektheit der Angaben wie in den Traditionsenzyklopädien gibt es nicht. Brockhaus-Pressesprecher Klaus Holoch sieht deshalb in Wikipedia keine ernsthafte Konkurrenz.«
Inzwischen steht Wikipedia mindestens auf Augenhöhe mit den klassischen Enzyklopädien und wird vielerorts als einschlägiges Beispiel für die »Weisheit der Vielen« bzw. das Wunder der freiwilligen Kooperation im Web 2.0 genannt. Nachfolgend ein passender Ausschnitt aus »Neue Demokratie im Netz?« zu diesem Thema:
Die Wikipedia nähert sich in ihrer Artikelqualität [.] dem Niveau klassischer Enzyklopädien an und ihre Aktualisierbarkeit durch die Nutzer wirkt sich bei zeitnahen Entwicklungen sogar positiv aus. Am Beispiel des Wikipedia-Artikels zu »Mumbai« lässt sich der Umgang der Enzyklopädie mit aktuellen Entwicklungen nachvollziehen: Am 26.11.2008 um 19.55 Uhr berichtete tagesschau.de erstmals über die Terroranschläge in Mumbai. Kurze Zeit später wurde diese Nachricht in der Diskussion um den Wikipedia-Artikel aufgegriffen. Um 22.40 Uhr nahm Wikipedia einen Hinweis auf die Anschläge in den Städte-Artikel auf. Bis 24 Uhr wurde der Artikel 9 mal überarbeitet und bis zum 29.11.2008 um 16 Uhr noch einmal 38 mal verändert. Diese Bearbeitungen führten jedoch nicht zu einem unkontrollierten Wachstum des Artikels, woraus sich der Schluss ziehen lässt, dass primär die bisherigen Inhalte qualitativ verbessert wurden […].
Ähnliche Beobachtungen lassen sich anhand von Wikipedia-Artikeln zu anderen Ereignissen wie z.B. der globalen Finanzkrise machen. Daraus lässt sich folgern, dass auch Artikel zu aktuellen Entwicklungen nicht strukturell inkonsistent werden müssen, selbst wenn sie wie in den geschilderten Fällen in 4 Tagen von insgesamt über 142.000 Nutzern und damit potentiellen Autoren aufgerufen wurden (Wikipedia Statistik 2008). Die Konsistenz der Artikel basiert auf vielschichtigen Qualitätssicherungsprozessen: Einerseits liegen Formatvorlagen vor, um die Artikelstrukturen zu standardisieren, andererseits existieren viele ehrenamtliche Administratoren, welche die Artikel auf die Wahrung neutraler Standpunkte und Verifizierbarkeit prüfen […].
Hauptsächlich basiert die Verlässlichkeit von Wikipedia jedoch auf der Aufmerksamkeit ihrer Nutzer, die Artikel jederzeit verändern können. Diese Veränderungen bleiben allerdings rückverfolgbar, was bereits 2005 zu einem kleineren politischen Skandal führen sollte: Kurz vor einer Landtagswahl wurden atypische Änderungen in den Artikeln »Jürgen Rüttgers« und »Peer Steinbrück« registriert: Am 17. Mai um 12.28 Uhr fehlten plötzlich die Hinweise auf Rüttgers »Kinder statt Inder«-Kampagne und Steinbrück erschien wie ein unsteter Tausendsassa, weil ein Autor seine 20 Ehrenämter als Nebentätigkeiten deklariert hatte. Nicht bedacht hatte die Politguerilla, dass die Versionshistorie auch die IP-Adressen der Verfasser speichert – und diese führten direkt zu den Rechnern des Deutschen Bundestags. Bereits um 12.46 Uhr wurden die entsprechenden Änderungen durch Wikipedia rückgängig gemacht (Meusers 2005).
Das vorangegangene Beispiel zeigt, wie wendig in der Wikipedia-Gemeinde auf Unschärfen reagiert werden kann, allerdings müssen diese Fehler natürlich erst einmal bemerkt werden, was bei Randthemen deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen dürfte als bei Artikeln zu prominenten Politikern. Mit dieser Fehleranfälligkeit haben gemäß der genannten Qualitätsstudien aber auch klassische Enzyklopädie-Anbieter zu kämpfen. Die eigentliche Qualität der Inhalte bemisst sich freilich ebenso an den Erwartungen der Nutzer: So bietet »Brockhaus Online« beispielsweise eine prägnante Definition des Begriffs »Hedgefonds« (28 Wörter), während Wikipedia zu diesem Stichwort umfassende Informationen zu internationalen Marktstrukturen bereithielt (2865 Wörter, 2009). Ein direkter Vergleich beider Angebote ist schon alleine aus diesem Grund zu hinterfragen. Dazu kommt, dass die klassischen Anbieter die übergreifende Wissensebene fokussieren, während Wikipedia auch Informationen zu Special-Interest-Gebieten und Populärkultur bereithält.
Aber selbst wenn wir diese Unschärfen außer Betracht lassen, lässt sich die Wikipedia nicht zwangsläufig als Paradebeispiel für die proklamierte »Weisheit der Vielen« anführen: Eine frühe Analyse des Partizipationsverhaltens durch Wikipedia-Gründer Jimmy Wales (2004) zeigte auf, dass 50% der Artikel von ca. 2,5% der angemeldeten Teilnehmer stammen. […] Diese primär männlichen Kernautoren sind durchschnittlich 33 Jahre alt und engagieren sich aufgrund ihrer ideologischen Verbundenheit zu Open-Content-Angeboten, aus Interesse an enzyklopädischen Inhalten oder um sich spielerisch zu unterhalten. Das Engagement bei Wikipedia erfüllt [.] entweder Informations-, Unterhaltungs- oder Identitätsfunktionen, wobei einige der Befragten einen »gewissen Suchtfaktor« beschreiben, der entweder positiv als Verantwortungsgefühl oder auch negativ als Stresserfahrung beschrieben wird [vgl. auch Stegbauer 2009]. Es entsteht der Eindruck, dass sich solche Angebote nur aufgrund der Arbeit weniger Engagierter aufrechterhalten lassen, die oft in typischer Weise der Vorstellung eines ›early adopters‹ entsprechen (jung, gebildet, männlich, technik-affin) […].
Ihre übergreifende Beachtung erfährt die Wikipedia [zudem] nur aufgrund ihrer Verlässlichkeit, die auf strukturell verfestigten Mechanismen der Qualitätssicherung beruht. Da es im tagesaktuellen Bereich kein vergleichbares Portal gibt, liegt die Vermutung nahe, dass dezentral organisierte Qualitätskontrollen durch die Nutzer zu langsam ablaufen, um bei aktuellen Ereignissen erfolgreich zu wirken und der virale Austausch in der Blogosphäre daher professionellen Nachrichtennetzwerken unterlegen ist. […] Die Wikipedia zeichnet sich trotz Open-Content-Philosophie durch eine strukturierte Zugangsweise und systematisch aufgebaute Artikel mit Quellenangaben aus. Blogs und Podcasts hingegen besitzen kaum strukturelle Konstanten und die Qualität ihrer Inhalte ist aufgrund fehlender Qualitätssicherungsprozesse nicht klar ersichtlich.