Luhmann und Stuttgart 21

22. Oktober 2010

Luhmann wird bekanntlich mittlerweile nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern auch in anderen Disziplinen gerne als argumentativer Steinbruch genutzt. Überdies tauchen Kleinstfragmente seiner Sichtweise auch in journalistischen Beschreibungen zu aktuellen Entwicklungen auf. Jüngstes Beispiel sind einige Berichte zu den Irrungen, Wirrungen und Protesten um »Stuttgart 21«. Hier drei Beispiele:

FAZ.NET 20.10.2010 (Legitimation durch Verfahren): »Luhmanns Buch”Legitimation durch Verfahren” erschien 1970. Als Sigmar Gabriel 1982 sein Studium in Göttingen aufnahm […] war es ein Klassiker […]. Allzu viel ist bei Gabriel offenbar nicht hängengeblieben […]. Der alte Satz klingt bei Gabriel wie eine technokratische Variante der Obrigkeitsstaatsräson: Die Politiker regeln die Dinge unter sich. Luhmann hat indes herausgearbeitet, dass die Demokratisierung mit der Verteilung der Entscheidungserzeugung auf zwei Sorten von Verfahren, die periodisch stattfindenden Wahlen und die ununterbrochen laufende Gesetzgebung, die Hierarchie von Obrigkeit und Untertan durch eine Differenzierung der Rollen ersetzt. Zwei “Kontaktbahnen zur Politik” stehen dem Einzelnen offen. Als Wähler hat er garantierten, aber minimalen und unspezifischen Einfluss […], “über persönliche Kontakte und Interventionen, Leserbriefe und sonstige Publikationen, Petitionen, Interessenverbände, Demonstrationen und so weiter kann er seine Interessen darstellen”.«

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Neue Demokratie im Netz?

11. Oktober 2010

Ab Oktober 2010 ist mein Buch “Neue Demokratie im Netz? Eine Kritik an den Visionen der Informationsgesellschaft” beim Transcript-Verlag verfügbar. Update: Mittlerweile ist auf der Vorstellungsseite des Buches auch eine Leseprobe verfügbar und hier gibt es den Personen- und Sachindex.

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Street View in der Global Village

22. August 2010

Mit Rekurs auf Luhmanns Informationsbegriff weist Jörg Räwel in Telepolis auf die Paradoxien hin, die mit einem Einspruch und der damit verknüpften Unkenntlichmachung der Gebäude bei Google Street View verbunden sind:

“Da von einem vergleichsweise kleinen Personenkreis auszugehen ist, der Häuserfassaden oder Grundstücke verblenden lässt, werden die – also vereinzelten – Verpixelungen beim Betrachten der Strassenpanoramen gewissermassen ins Auge springen. Es sind also gerade durch die Löschung verursachte Unterschiede (zu unverpixelten Immobilien), die informative Unterschiede erzeugen. Es darf dann mit Blick auf die hervorstechenden “Löschungen” vermutet werden: Der Bewohner dieses Hauses/Grundstücks ist sicher ein Googlekritiker, scheint von Datenmissbrauchsphobie befallen zu sein, hat was zu verbergen (Gibt es wohl Wertsachen in Haus?), scheint auf seinem Grundstück ein ziemliches Chaos zu haben […]. Entgegen naiver Überzeugung und dann paradoxer Weise werden mit dem Löschen (Verblenden, Verpixeln) von Daten keine Daten vernichtet, sondern werden vielmehr neue Daten erzeugt.”

Diese Beschreibungen gelten aber nicht nur für Abbildungen im digitalen Nexus, sondern ebenso in der Offline-Welt: Sobald ein Hausbesitzer eine große Mauer um sein Anwesen baut, provoziert er Neugierde und Aufmerksamkeit, d.h. er steigert die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sein Haus für kriminelle Machenschaften interessant wird, obwohl oder gerade weil er etwas verbirgt. Dies gilt zumindest in jeder durchschnittlichen deutschen Stadt.

In Windhoek (Namibia) hingegen ist beispielsweise eine Abschottung des Eigenheims mit entsprechender Sicherheitsanlage die Normalität (sobald man sich ein Haus leisten kann). In den entsprechenden Quartieren würde sich ein Hausbesitzer unterscheiden (und entsprechende Aufmerksamkeit erregen), der keine Sichtschutz- und Sicherheitsvorkehrungen trifft.

Wenn es also nicht üblich ist, die Bilder der Aussenfassaden seiner Wohnung oder seines Hauses in Street View zu verschlüsseln, fällt jede Verpixelung natürlich auf. Eine zu diskutierende Lösung wäre es folglich, zunächst einmal alle Privat-Immobilien zu Verpixeln und auf Anfrage “klar” zu schalten.

Auf der anderen Seite deutet schon das Wort “Fassade” auf den Denkfehler hin, der Street View-Kritikern unterläuft: Die Aussenhaut eines Gebäudes ist ja geradezu dazu gemacht, gesehen zu werden. Und dass mannigfaltige Spielarten angewendet werden, um sich diesbezüglich bewusst von seinen Nachbarn zu unterscheiden, lässt sich etwa in den Stuttgarter Wohnbieten auf Halbhöhenlage bestens beobachten. Warum sollten diese Fassaden offline sichtbar sein und Online verpixelt werden?

Einerseits profitiert jeder Online-Nutzer von den effizienteren Kommunikationsweisen und den damit verbundenen schier unendlichen neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die scheinbar so leicht und schnell erreichbar sind, wie früher die Kneipe im heimischen Dorf. Der Begriff “Global Village” trifft des Pudels Kern also zumindest teilweise. Andererseits aber sollen in dieser globalen digitalen Stadt nun die Fassaden der Häuser verhüllt werden?

Wer keine Daten zu seiner Person produzieren bzw. freigeben möchte, darf sich eigentlich kaum im World Wide Web bewegen, da jeder Mausklick protokolliert werden kann und viele Dienste nur sinnvoll nutzbar werden, wenn zumindest irgendeine digitale Identität angegeben wird. Wer an der vordigitalen Öffentlichkeit partizipieren wollte, wie sie etwa Sennett in ihrer Urform für das Ancien Régime beschrieben hat, musste – wie jeder Internetnutzer – heute damit leben, dass seine Mitmenschen registrieren, in welchen Gegenden er sich bewegt und was er in welchen Kneipen oder Cafè-Häusern macht. Wer in der Stadt bekannt war, musste damit rechnen, dass einzelne Mitmenschen hin und wieder wissen wollten, wie er denn so wohnt.

Vielmehr passiert heute auch nicht im Kontext von Street View: Wer sich unterscheidet (durch sein Verhalten, seine finanzielle Situation, die Fassade seines Hauses, seine Attitüde etc.) wird interessant für etwaige Beobachter. Wer vor der sozialen Wirklichkeitswerdung des Internets durch eine relevante Unterscheidung (z.B. durch ein protziges Haus) für das heimische Verbrechen interessant wurde, wird heute via Street View für international agierende kriminelle Organisationen interessant und muss ggf. entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen.

So gesehen sind die Veränderungen durch Google Street View also nicht gravierend: Die Digitalmachung der Gebäudefassaden ist eine nahe liegende Konsequenz der kommunikationstechnischen Global Village, wobei McLuhan selbst später das Bild eines “globalen Theaters” präferierte. Ein drastischer Unterschied zu den öffentlichen Fassaden in der klassischen Stadt existiert dann aber doch: Bei entsprechendem Interesse kann sich jeder Spaziergänger die Gebäude und deren Fassaden auf gleiche eingehende Weise betrachten. Im Falle des privaten Unternehmens Google wissen wir hingegen nicht, welche Daten neben den Veröffentlichten noch in den Händen des Anbieters liegen.


Luhmann vor dem World Wide Web

10. August 2010

Luhmann, der theoretische “Antihumanist“, hat sich, das zeigen vor allen Dingen Interviews, auch mit den Auswirkungen computergestützter Kommunikation auf die Gesellschaft beschäftigt. Etwas gemein, aber hier ein paar Aussagen, die der Systemtheoretiker größtenteils vor der sozialen Wirklichkeitswerdung des Internets getroffen hat:

… zur Computerisierung der Gesellschaft (1992, aus dem Buch “Was tun, Herr Luhmann” [Kadmos 2009]): “In den ersten gedruckten Büchern wurde der Leser aufgefordert, selber zu antworten, seine eigenen Erfahrungen, etwa mit Kräutern, an den Autor des Buches weiterzugeben. Der Leser wurde sogar aufgefordert, selbst Bücher zu schreiben. […] Ich sehe keine Veränderungen von gesellschaftlicher Tragweite. Ich beobachte nur Veränderungsstückchen, neue Möglichkeiten in verschiedenen Hinsichten, […] nichts, was dem kulturellen Stoßeffekt der Schrift gleichkäme. […] Ich sehe keine Ausweitung von Möglichkeiten, die den Organisationsaufwand und den Formfindungsaufwand schwieriger machen. Es fällt ja auf, dass beispielsweise die Computerisierung in Firmen mit fast unveränderten Organisationsformen durchgeführt wird”.

… zur Dezentralisierung durch Computerisierung (1993, ganzes Interview hier): “Die Computerisierung führt zu einer Dezentralisierung sowohl auf professioneller als auch auf organisatorischer Ebene und gerade nicht zu einer zentralen Kontrolle. […] Computersysteme thematisch zu zentralisieren, macht überhaupt keinen Sinn”.

… über das Verhältnis zwischen Web-Massenmedien (1997 , ganzes Interview hier): “Für Massenmedien selber werden die aktuellen technischen Innovationen wie das Internet oder individuell wählbare Informationen wenig Bedeutung haben. Sie werden sich neben Massenmedien wie Tageszeitungen oder auch das Fernsehen setzen, sie jedoch nicht verdrängen. Das Internet mit seinen Kommunikationsmöglichkeiten ist auch, wenn es massenhaft als Medium genutzt wird, kein Massenmedium, denn es ist ja gerade keine einseitige technische Kommunikation, sondern kann individuell genutzt werden. Die Sorge, dass neue Medien die traditionellen ersetzen, ist so alt wie unbegründet”.

… zu Computern und Information (1996, ganzer Vortrag hier): “Die Computer speichern und verarbeiten, wie man sagt, Informationen: aber ihre Schaltzustände sind und bleiben unsichtbar, und man muß schon wissen, was man wissen will, um ihnen Schrift, Tabelle, Bild oder Sprache zu entlocken. […] Die gespeicherten Daten, die Bücher in den Bibliotheken, die Dokumente in den Archiven, die Schaltzustände der Computer, sind zunächst ja nur virtuelle Information, die nur Information wird, wenn man sie nachfragt und sich durch Auskunft oder Ausdruck überraschen läßt. Zur Anfrage oder Abfrage bedarf es jedoch einer Entscheidung. […] Computer machen Eindruck, gerade weil man nicht sehen kann, wie sie arbeiten. Aber die Form der Information hat auch eine andere Seite. Sie reproduziert Wissen als Überraschung. Alles, was sie bestimmt, könnte auch anders bestimmt sein. Ihre Kosmologie ist eine Kosmologie nicht des Seins, sondern der Kontingenz”.


Elfmeter: Die doppelte Kontingenz

2. Juli 2010

Schussgeschwindigkeiten um die 100 km/h auf ein Tor mit  7,32 Metern Breite bzw.  2,44 Metern Höhe und mit einer Distanz zwischen Elfmeterpunkt und Torlinie, die vom Spielball in weniger als einer halben Sekunde überwunden wird, machten das Viertelfinale der FIFA-WM 2006 zwischen Deutschland und Argentinien zu einem nervenzerreißenden Krimi.

Das Elfmeterschießen ist ein Paradebeispiel für doppelte Kontingenz als das Grundproblem jeglicher Kommunikation: Der Wechselprozess zwischen den Erwartungen der teilhabenden Akteure, die sich indirekt aneinander ausrichten und jeweils auch anders sein könnten.

Lehmann hatte eine Vermutung, welche Ecke Rodriguez wählen könnte und  Rodriguez vermutete, dass Lehmann das vermutete. Daher tendierte er für die andere Ecke, wobei Lehmann wiederum vermutete, dass Rodriguez wußte, was er zuvor vermutete usw. usf. Rodriguez  verwandelte seinen Elfer, bei zwei weiteren Argentiniern lag hingegen Lehmann richtig.

Was heißt das nun für  Neuer und Podolski ? Einerseits ist die Wahrscheinlichkeit, den Elfer zu halten, für den Torwart statistisch gesehen gering: Über 80% dieser Strafstöße werden im WM-Kontext verwandelt. Entsprechend richten sich die Erwartungen des Publikums aus: Neuer wird nicht verdammt werden, wenn er den Ball nicht abwehren kann, Podolski hingegen schon, falls er verschießt.

Also heißt es für den Schützen, möglichst unberechenbar zu sein und seine Entscheidungen möglichst zufällig zu wechseln. Das allerdings entspricht nun nicht der menschlichen Natur und schon gar nicht der Relevanz der Situation, in der ein ganzes Land auf einen Treffer hofft. Welche Möglichkeiten Schütze und Keeper bleiben, haben die Leipziger Soziologen Roger Berger und Rupert Hammer anhand der Daten vieler Bundesliga-Spielzeiten in einem jüngst ausgezeichneten Artikel diskutiert:

  • Schüsse in die oberen Torecken sind beinahe unhaltbar, aber das Risiko, den Ball über die Latte zu semmeln ist nicht zu unterschätzen.
  • Genau in die Mitte zu schießen erscheint ebenfalls erfolgsversprechend, da der Keeper nur in 2% der Fälle nicht nach links oder nach rechts springt. Allerdings nur, wenn er nicht anhand der Schussbewegung antizipieren kann, dass der Ball in der Mitte landet.
  • Gemäß der analysierten Daten besitzt jeder Schütze einen  Schussfuß, den er gerade beim Elfmeter nicht wechselt und der die Wahrscheinlichkeit für eine “natürliche” Schussrichtung steigert. Das weiß natürlich auch der Torwart und wird versuchen, in die entsprechende Ecke zu springen. Der Schütze kann aber auch bewusst die andere Ecke wählen, selbst wenn der Schuss dann wahrscheinlich schwächer ist, weil er ja weiß, dass der Torwart höchstwahrscheinlich über seine “natürliche” Schussrichtung informiert ist.
  • Entgegen aller Vorurteile spielt der psychische Druck durch Heimspiele, einen knappen Spielstand oder einem späten Zeitpunkt im Spiel statistisch gesehen keine Rolle für den Erfolg des Strafstoßes.

Und das Fazit für Samstag? Bestenfalls macht sich der Schütze möglichst wenig Gedanken um seine Entscheidung und trifft eine auch in der Beobachtung rein zufällig erscheinende Wahl. Das allerdings ist leichter gesagt als getan, da der Spieler dann eigentlich gegen die ihm zugeschriebenen Regelmäßigkeiten (z.B. häufige Schussrichtung) ansteuern muss, die ihm nicht mal selbst bewusst sein müssen.

In der Kommunikation haben wir allerlei soziale Methoden und individuelle Brückenkonstruktionen entwickelt, um die doppelte Kontingenz zu reduzieren und die wechselseitigen Erwartungen aneinander auszurichten, denn in den meisten Fällen wollen wir ja durchaus verstehen und verstanden werden. In der Elfmeter-Situation ist das genau umgekehrt: Der Schütze möchte in seiner Entscheidung eben keineswegs durchschaut werden und ebensowenig möchte der Torwart Anzeichen dafür geben, welche Ecke er wohl deckt. Gleichzeitig wollen beide Seiten aber möglichst früh wissen, wie sich die andere Seite verhält.

Oder aber, man macht es wie Lukas Podolski und schießt einfach ohne unnötig nachzudenken.

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Zum Weiterlesen: Roger Berger und Rupert Hammer: „Die doppelte Kontingenz von Elfmeterschüssen“, Soziale Welt 58 (2007).