»Das Web hat sich schneller als andere Medien ausgebreitet« — ein Mythos?

8. August 2011

Norbert Elias hat dem Sozialwissenschaftler in »Was ist Soziologie?« (1970) einst die Funktion eines »Mythenjägers« zugesprochen und auch in der modernen Informationsgesellschaft durchkreuzen noch immer zahlreiche Legenden die Öffentlichkeit, die hinterfragenswert erscheinen – darunter die Erzählung, dass sich das Internet schneller ausgebreitet hat als alle Medien je zuvor (siehe etwa hier). Und tatsächlich: Während z.B. in den USA das Radio nach 20 Jahren Marktpräsenz 99 Mio. Nutzer und das Fernsehen deren 160 Mio. verzeichnen konnte, wird das Web bis Ende 2011 rund 250 Mio. US-Amerikaner erreichen.

Der norwegische Informatik-Dozent Gisle Hannemyr stellte allerdings schon 2003 in einem Artikel fest, dass an dieser einfachen Rechnung vieles nicht stimmt: Einerseits sollte zwecks Vergleichbarkeit darauf geachtet werden, dass der Startpunkt der Verbreitungskurven für jedes Medium eine ähnliche Ausgangssituation beschreibt, und andererseits müsste die Bevölkerungsentwicklung mit in die Berechnung mit einbezogen werden. Wird beides getan, kommt folgende Grafik heraus (die Hannemyrs Daten um aktuellere Nutzer- und Bevölkerungszahlen ergänzt):

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Web vs. Massenmedien: Zurück zum Kaffeehaus?

28. Juli 2011

Tom Standage – um historische Vergleiche nie verlegen, wie schon sein Buch »Das viktorianische Internet« (1999, NZZ-Rezension) zeigt – hat diesen Monat in The Economist eine sehr lesenswerte Artikelserie zum Verhältnis von Internet und Print- bzw. Massenmedien veröffentlicht. Seine Kernthese lautet: Nach einer Phase der Massenmedien und des Gatekeeper-Journalismus bewegen wir uns nun durch Social Media im Web seit einigen Jahren wieder in die Richtung einer liberalen und partizipativen »Kaffeehaus«-Öffentlichkeit, ähnlich wie sie Richard Sennett für das Ancient Régime beschrieben hat. Und das heisst: »News is becoming a social medium again, as it was until the early 19th century—only more so«.

kaffeehaus internet

Quelle: http://www.oeaw.ac.at (verlinkt)

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EPIC 2015: Vision und Realität

19. Juli 2011

»Das Internet macht vielleicht doch nicht dumm« überschreibt Die Zeit einen Artikel zu den Ergebnissen einer aktuellen Studie der Columbia UniversityGoogle Effects on Memory«): In der Untersuchung stellte sich heraus, dass sich die Probanden »besser an den Ort erinnern konnten, an dem die Information zu finden ist, als an die Information selbst«. Daraus leiten die Autoren (Sparrow/Wegener) die Vermutung ab, dass das Web als externes Gedächtnis dienen kann.

Ob das Web als Erweiterung des Gehirns wirkt, hängt allerdings wesentlich auch davon ab, über welche Bewertungs- und Selektionskompetenzen der jeweilige Onliner verfügt bzw. aus welchen Gründen heraus er ins Netz geht. Oder um es in den Worten eines netzbekannten fiktiven Rückblick-Kurzfilms zu sagen:

»Bestenfalls ist [das Netz] für seine klügsten Nutzer einer Zusammenfassung der Welt, tiefer umfassender und nuancierter als alles vorher Erhältliche, aber Schlimmstenfalls ist [es] für allzu viele Menschen lediglich eine Ansammlung von Belanglosigkeiten […].«

Dieser Ausschnitt stammt aus der imaginären filmischen Rückschau EPIC 2015, der als Projekt eines ebenfalls erfundenen Museum of Media History die Geschichte des Internet von 1989 bis 2015 nachzeichnet und im Jahr 2004 veröffentlicht wurde. Er beschreibt, wie sich das Netz unter der Vorherrschaft einer damals angenommenen Allianz von Google und Amazon zu einem automatisierten Evolving Personalized Information System entwickelt, das »für jeden ein Content-Paket zusammen[stellt], das seine Vorlieben, seine Konsumgewohnheiten, seine Interessen, seine demografischen Faktoren und seine sozialen Bindungen nutzt« – ein individuelles externes Gedächtnis also, das alle gewünschten Informationen auf dem silbernen Tablet(t) serviert:

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Heute ist die Zukunft von gestern — Teil V

12. Juli 2011

Schon aufgrund der Vielzahl an ineinander wirkenden Variablen bleiben die langfristigen soziokulturellen Folgen neuer kommunikationstechnischer Entwicklungen kaum abschätzbar, auch wenn sich hin und wieder aus der Vielzahl an Zukunftserwartungen eindrucksvolle Zufallstreffer herausfiltern lassen (vgl. auch »Heute ist die Zukunft von Gestern« Teil I, II, III und VI).

Ein besonders eindrückliches Beispiel sind einige Vorhersagen aus dem Buch »The Information Machines: Their Impact on Men and the Media« (1971) des Journalisten Ben Haig Bagdikian, der im selben Jahr im Kontext der Veröffentlichung geheimer Pentagon-Papiere zum Vietnam-Krieg einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und später die Bestseller Media Monopoly und New Media Monopoly veröffentlichte. Das Buch selbst ist heute kaum mehr zu bekommen, aber aus einem Spiegel-Artikel (1972) lassen sich seine Kernthesen extrahieren. So prognostizierte Bagdikian z.B.:

»Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird eine neue Technologie mehr tägliche Informationen unter mehr Menschen streuen können als je zuvor in der Weltgeschichte.«

Quelle: Spiegel 1972

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Buchmarkt: 55 Thesen und 3 Szenarien

26. Juni 2011

In der Taxierung der Rückwirkungen der neuen Technologien auf die Printmedien scheint der Trend in Richtung einer hohen Thesenanzahl zu gehen (vgl. Jeff Jarvis’ 36 Thesen zur Zukunft der News-Branche). Im Juni standen nun 55 Thesen zum deutschen Buchmarkt 2025 in der Diskussion, die von Matthias Ulmer (Verleger-Ausschuss), Heinrich Riethmüller (Sortimenter-Ausschuss) und Matthias Heinrich (Ausschuss für den Zwischenbuchhandel) entwickelt wurden und deren zentrale Aussagen sich im Groben auf 5 Punkte reduzieren lassen:

  • Gedruckte Medien verlieren an Bedeutung. Insbesondere der stationäre Buchhandel muss in den nächsten 15 Jahren mit einem Rückganz von ca. 30 Prozent rechnen. Paid-Content hingegen wird einen wachsenden Anteil am Gesamtumsatz einnehmen, wobei auf diesem Feld neue Anbieter Markteinfluss gewinnen werden.
  • Gedruckte Fachbücher und Bildungsmedien verlieren erheblich an Bedeutung (und damit auch deren stationärer Vertrieb). Insbesondere in diesen Bereichen sollten Verlage daher ein erweitertes Know-How hinsichtlich Konzeption, Produktion und Distribution von elektronischem Paid-Content aufbauen.

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Kindle Direct Publishing: Schöne neue Welt?

21. Juni 2011

Die Welt hat mit John Locke neuerdings einen weiteren Bestseller-Autor. Das Besondere: Locke arbeitet mit keinem Verlag zusammen, sondern vertreibt seine Thriller selbst – via Kindle Direct Publishing (KDP) für 99 Cent pro Buch: »All this was achieved Part time, without an agent, publicist, and at virtually no marketing expense« (vgl. e-book-news.de). Ähnlich wie der Apple-App-Store führt der Kindle eBook Store also ein Stück weit zu einer Öffnung der jeweiligen Märkte für semi-professionelle Autoren, deren Werke sich durch Nutzer- oder Leserempfehlungen unabhängig von klassischen Marketing-Prozessen verbreiten können.

Das klingt erst einmal nach einem weiteren Beleg für die radikale Veränderungskraft der neuen Medienformen: Potentiell jeder Freizeitautor kann seine Schriften nun schnell und unkompliziert verbreiten, ohne den Auswahlpräferenzen etablierter Verlage entsprechen zu müssen. Gleichzeitig allerdings zeigen sich auch die Probleme dieser neuen Freiheit: »Spam clogging Amazon’s Kindle self-publishing« (Reuters).

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»Die Akzeptanz für E-Books im Allgemeinen ist noch sehr gering«

12. Mai 2011

Im Kontext von »Gutenberg-Galaxis Reloaded?« (vgl. auch das vorangegangene Diskussionspapier) durfte ich neulich in der DeWeZet ein paar Takte zur Durchschlagkraft von E-Books auf dem deutschen Markt zu Protokoll geben:

„Die Akzeptanz für E-Books im Allgemeinen ist noch sehr gering“, bestätigt auch Dr. Jan-Felix Schrape, Soziologe und Autor des Buches „Gutenberg-Galaxis Reloaded? […]“. Nur wenige Leser wollten bislang auf das gedruckte Buch verzichten, denn im Unterschied zum Abruf von Film- und Musikinhalten, der seit jeher den Einsatz von technischen Geräten voraussetzt, bieten digitale Bücher auf dem Publikumsmarkt bislang kaum Mehrwerte, die einen Umstieg rechtfertigen könnten, so Schrape. Im Fachbuch-Bereich sehe dies anders aus, weil dort schnelle Recherchierbarkeit und unkomplizierte Weiterverarbeitungsmöglichkeiten im Vordergrund stünden.

Im Jahr 2010 betrug der Anteil von E-Books am Gesamtumsatz des deutschen Buchhandels je nach Schätzung höchstens 0,5 Prozent [vgl. GfK], erläutert Schrape. In den USA waren es 2010 immerhin 8 Prozent [vgl. APP]. „Eines ist sicher“, sagt der Soziologe voraus, „das E-Book wird sich in Deutschland langsamer durchsetzen, als vielfach vermutet.“ […] Laut Branchenexperte Kevin Kelly könnte Amazon den Reader Kindle schon im November 2011 verschenken. Schrape ist da skeptisch: „Ich rechne nicht damit, dass Tablets oder E-Reader hierzulande in den kommenden Jahren kostenfrei angeboten werden – und wenn, dann werden das nicht die State-of-the-Art-Geräte sein, welche die Kunden wollen.“