Wiedervorlage: Zur Soziologie des Schenkens

Jan-Felix Schrape | 17. Dezember 2025

Axel T. Paul hat 1997 in der Soziologischen Revue eine auch heute noch höchst lesenswerte Sammelrezensionen zu fünf Büchern verfasst, die sich in der ein oder anderen Weise mit den Phänomenen der Gabe und des Schenkens beschäftigen.

Quelle: Wikimedia

Einige Passagen daraus:

»Blumen, Kleidung, Bücher, Gegenstände aller Art, aber auch Immaterielles wie Urheber- und Nutzungsrechte, Dienste und Handreichungen – es gibt kaum etwas, das nicht zum Geschenk werden könnte. Wertloses kann sich in Form eines Geschenkes in Wertvolles verwandeln, und umgekehrt kann Wertvolles als Geschenk durchaus wertlos sein. Ein Geschenk ist keine Ware, auch wenn die Mehrzahl der Geschenke Waren sind. Um aus Waren Geschenke zu machen, ist es notwendig, das Preisschild zu entfernen und sie einzupacken. […] Zu Weihnachten werden pro Haushalt Dutzende von Verwandten und Freunden mit Geschenken bedacht, deren Marktwert in der Regel desto höher liegt, je näher die Beschenkten dem Schenkenden stehen.

[…] Das moralische Potential des Schenkens kommt Berking* zufolge erstmalig in der höfischen Kultur des Spätmittelalters auch außerhalb der gastlichen Situation zum Tragen. Er argumentiert, daß gerade weil die adlige Freigiebigkeit es nicht darauf anlege, den Beschenkten zu binden, eben dieser sich binden lasse […]. Weil es in der höfischen Gesellschaft nicht auf die gewährte Leistung, sondern das Gewähren ankomme, werde die Gabe ins Geschenk transformiert.

[…] Die Gabenmoral, die das ganze Mittelalter hindurch die Lebensformen auch der Bauern und Handwerker bestimmt hatte, wurde seit dem 16. Jahrhundert theoretisch wie praktisch durch das bürgerliche Vertragsrecht abgelöst. Das Lob des Eigeninteresses, die ihm aufruhenden politischen Theorien des Besitzindividualismus sowie die sich langsam entwickelnde Nationalökonomie verdrängten den Gabentausch schließlich aus der wirtschaftlichen Praxis wie auch dem Bewußtsein der Individuen.

Die Umgangsformen der höfischen Gesellschaft, das Schenken als jedes Kalkül verneinende Form wechselseitiger Wertschätzung und Anerkennung verschwand gleichwohl nicht, sondern tauchte in der bürgerlichen Privatsphäre wieder auf und verbreitete sich im Rahmen der Familie weit über den quantitativ beschränkten Kreis des Adels hinaus. Das Schenken zog sich aus dem lichten Glanz der Höfe in die Heimeligkeit bürgerlicher Stuben zurück, aber nur, um dort erst seine ganze Kraft zu entfalten. Und in der Tat scheint das bürgerliche Weihnachtsfest derjenige Ritus gewesen zu sein, über welchen die bürgerliche Schenkkultur sich etablierte. Weihnachten ist also nicht das Potlatschfest der westlichen Welt: Denn das Geschenk ist ja gerade der agonalen Züge entsetzt, der Schenkende zielt nicht auf Akkumulation von Ehre und politischer Macht, sondern bringt mittels des Geschenks seinen Respekt vor oder seine Liebe zu dem Beschenkten zum Ausdruck. Das erklärt im übrigen die bei der Zirkulation der Weihnachtsgeschenke zu beobachtenden Asymmetrien. Unbenommen wird das Weihnachtsfest heute von vielen als unangenehme, zwanghafte oder pervertierte Pflichtübung empfunden, nur widerlegt diese Abwertung oder Ablehnung weihnachtlicher Bräuche nicht die grundsätzliche Aufwertung und Bedeutung des Schenkens in modernen Gesellschaften.

Berking postuliert also […] eine Komplementarität von kapitalistischer Ökonomie und bürgerlicher Schenkkultur. Als einziger der hier vorgestellten Autoren macht er [.] plausibel, daß-und wie Ware und Geschenk einander bedingen: Erst die Entlastung der immer auch instrumentalisierbaren Gaben von persönlichen Dankbarkeitspflichten, erst die Verwandlung der Gaben in Güter, machte es auf der anderen Seite möglich, sie zu Geschenken zu adeln. […]«

* Berking, Helmuth (1996): Schenken: zur Anthropologie des Gebens. Frankfurt a.M.: Campus.