Corona-Krise und Soziologie (4): Massenmedien

4. April 2020

Nachdem letzte Woche die Digitalisierung der Gesellschaft im Zeichen der Corona-Krise im Fokus stand, dokumentiert dieser Beitrag nun sozialwissenschaftliche Diagnosen und Einschätzungen zu der massenmedialen Berichterstattung im Kontext der Pandemie. Denn die zentrale Bedeutung journalistischer Massenmedien in der gesellschaftlichen Gegenwartsbeschreibung, die wiederum Grundlage kollektiv bindender Entscheidungen ist, trat in den letzten Wochen erneut pointiert hervor. Einige auffindbare soziologische bzw. medienwissenschaftliche Stimmen dazu:

  • Vinzenz Wyss (2.4.2020, zhaw): »Die Corona-Krise zeigt, wie wichtig glaubwürdige Medien in Zeiten sind, in denen grosse Unsicherheit herrscht. Weil sich die Entwicklung und Verbreitung des Virus stündlich verändert, gibt es eine starke Konzentration auf online verfügbare Medien. Es gibt noch keine Studien zur Medienberichterstattung oder zur Nutzung; ich beobachte aber, dass sich Menschen, die nach Informationen und Einordnung suchen, stärker vertrauenswürdigen Medien zuwenden und auch auf sozialen Plattformen besonders häufig Medienbeiträge teilen. […] Beruhigend ist, dass auf Social Media kursierende, offensichtliche Verschwörungstheorien oder skurrile Thesen selbsternannter Experten kaum eine Chance haben, sich gross auszubreiten […].«
  • Oftried Jarren (29.3.2020, Deutschlandfunk, epd): »Die Exekutive dominiert in Zeiten der Pandemie. […] Das erfordert von den Medien und vom Journalismus ein Höchstmaß an Achtsamkeit, Vorsicht, Zurückhaltung – und Distanz. […] Andererseits müssen Medien und Journalismus nun besondere Qualitäten zeigen, um jetzt wie in Zukunft als zuverlässig, unabhängig und relevant gelten zu können. […] Mehr denn je geht es um Analyse, Kritik und Kontrolle. […] Medien wie Journalismus dürfen nicht Teil eines Exekutiv-Experten-Systems sein oder werden, sondern sie haben funktional wie normativ eigenständig zu operieren. […] Auffällig: Die öffentlichen Medien stützen sich nicht nur immer auf die gleichen wissenschaftlichen Expertinnen und Experten, sondern auch die Exekutive argumentiert mit Experten und stützt sich auf diesen Kreis. […] Der Bezug auf wissenschaftliche Expertise ist so richtig wie begründet, aber vor dem Hintergrund der Tiefe der Maßnahmen bedarf es hier deutlich mehr Transparenz. Dafür sollten die Medien sorgen. […] Die Inszenierung von Bedrohung und exekutiver Macht dominiert. […] Es fehlen alle Unterscheidungen, die zu treffen und nach den zu fragen wäre: Wer hat welche Expertise? Wer tritt in welcher Rolle auf? Was soll in welchem Format wem vermittelt werden? […] Wo haben wir es mit Verwaltungshandeln zu tun und wo mit politischem Handeln?«
  • Daria Gordeeva (3.4.2020, medienrealität): »Der vehementen Kriegsrhetorik politischer Entscheidungsträger treten die Medien nicht entgegen. […] Kontrolle der Mächtigen gehört – neben der Informationspflicht – zu zentralen Aufgaben der Medien in einer demokratischen Gesellschaft. Die Wächterrolle der Journalistinnen und Journalisten ist unerlässlich für die öffentliche Meinungsbildung und politische Entscheidungsprozesse. […] Genau jetzt sollten ›Watchdogs‹ die Ohren spitzen […] Sind #FlattenTheCurve, #WirBleibenZuhause und ›das künstliche soziale Koma‹ tatsächlich die einzigen […] Strategien […]? Welche Folgen können die ›Hausarreste‹ für Menschen haben […]? Können die gravierenden, langanhaltenden Eingriffe in die Grundrechte die Freiheit nachhaltig gefährden? Das wären beispielsweise Fragen, über die eine öffentliche Diskussion geführt werden sollte – und zwar aus unterschiedlichen Perspektiven.«
  • Bernhard Pörksen (27.3.2020, Deutschlandfunk Kultur): »Wir leiden unter der Überdosis an Ereignis- und Krisenkonzentration, die uns im Moment auf allen Kanälen erreicht. […] Wenn es noch einen Beleg für die Macht der Medien bräuchte – er wäre hiermit im globalen Maßstab erbracht. Entscheidend ist jetzt: Wie mit der Überdosis Weltgeschehen umgehen […]? […] Noch vor dreißig Jahren war das heilige Mantra der Netzutopien schwer in Mode, das da hieß: Mehr Information macht uns automatisch mündiger. Heute müssen wir anerkennen: Immer mehr Informationen unklarer Herkunft und Qualität erhöht die Chancen effektiver Desinformation. Weil wir im frei umher wirbelnden Informationskonfetti auf das zurückgreifen, was wir ohnehin glauben und glauben wollen. […] Und das heißt in der Konsequenz: Je unruhiger die Zeiten, desto wichtiger der besonnene, reflektierte Informationskonsum, der die Irrtumswahrscheinlichkeit minimiert und auf behutsame Weise die Selbstirritation eigener Gewissheiten programmiert.«
  • Stefan Müller-Doohm (31.3.2020, NWZ): »Die von den Medien vermittelten und transparent gemachten öffentlichen Auseinandersetzungen auf dem Forum der Politik und die rationalen Begründungen von epidemiologisch geforderten Maßnahmen durch Virologen und Ärzte wie die Shutdown-Strategie oder das Social Distancing, diese Informationsstrategien sind in demokratischen Gesellschaften zwingend und hilfreich. Breit gestreute Aufklärungsprozesse über Medien und durch andere Institutionen, natürlich auch der Rat wissenschaftlicher Experten etc., all dies sind zentrale Bedingungen, um zu Einsichten im Hinblick auf das gemeinsame Wohl zu kommen.«
  • Norbert Bolz (22.3.2020, NZZ): »Wie kann man sich das Zu-Hause-Bleiben schmackhaft machen? Natürlich gibt es auch zu Hause die Wonnen der Passivität, die Rauschzustände von Entertainment und Alkohol. Auf die Dauer kommt man aber mit der ungewohnten Freizeit besser klar, wenn man aktiv wird. Dabei hilft die Welt der eigenen Bibliothek […]. Die Disziplin des Lesens setzt ja nur voraus, dass man irgendwo in Ruhe sitzen kann – und das ist nirgendwo besser gewährleistet als zu Hause. Die monothematischen Medien überfluten uns mit Corona-News – und daran wird sich lange nichts ändern. Umso wichtiger ist es, einen klaren Kopf zu behalten, indem man sich auch mit anderen Themen beschäftigt – im Geistergespräch mit den Grossen.«

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