Corona-Krise und Soziologie (5): Digitalisierung II

11. April 2020

Womöglich wird die Corona-Krise in der Retrospektive als ein beschleunigendes Trägerereignis für die digitale Transformation der Gesellschaft eingestuft werden, so wie es aus Sicht einiger Medienhistoriker die Reformation ab 1517 für den gutenbergschen Buchdruck bzw. die Printmedien war. Der Videochat etwa, an den seit vielen Jahrzehnten hohe (aber unerfüllte) Erwartungen geknüpft wurden, scheint nunmehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein – und mit ihm Plattformen wie Zoom, die sich trotz aller Datenschutzbedenken auch an Hochschulen verbreiten.

Mit der intensivierten Digitalisierung der Lebenswelt gehen indes zahlreiche spürbare Ambivalenzen einher, die derzeit in Echtzeit reflektiert werden. Wie seit einigen Wochen üblich, werden an dieser Stelle einige sozialwissenschaftliche Stimmen aus dem öffentlichen Diskurs hierzu dokumentiert:

  • Tilman Santarius (29.3.2020, klimareporter): »Unsere Gesellschaft macht gerade einen riesigen Sprung in Richtung Digitalisierung von beruflichen Meetings, Arbeitsformen und auch persönlicher Kontaktpflege. […] Die Bequemlichkeit und Zeitersparnis, die das mit sich bringt, wird auch nach der Coronakrise nicht vergessen werden. […] Aus ökologischer Sicht ist der Trend extrem positiv zu bewerten. Durch die Coronakrise werden die verkehrsbedingten Treibhausgas-Emissionen stark reduziert werden.«
  • Andreas Reckwitz (5.4.2020, tagesspiegel): »In einer Phase, in der Kommunikation von Angesicht zu Angesicht riskant erscheint, können die digitalen Medien, die eine Kommunikation unter räumlich Abwesenden ermöglichen, zwar nicht alles, aber doch manches ersetzen. Darauf greift die Gesellschaft gegenwärtig nun noch intensiver zurück: Homeoffice und Videokonferenzen im Bereich der Arbeit, digitales Lernen in Schule und Hochschule, Onlinekonsum und persönliche Kommunikation über das Netz – man kann davon ausgehen, dass diese Erfahrungen auch nach Ende der Krise dazu führen, dass sich Arbeit, Bildung und Privatsphäre weiter tiefgreifend digitalisieren. Allerdings: In Ostasien hat man, um die Infektion zu bannen, auch das digitale Tracking von Risikopersonen intensiviert. Dass der Staat ungenierter versucht, auf persönliche Daten ›im gesellschaftlichen Interesse‹ zurückzugreifen, ist ebenfalls eine mögliche Folge der Krise.«
  • Ingrid Kofler (1.4.2020, eurac): »Der soziale Raum ist ein soziales Produkt. Er ist in seinen verschiedenen Formen eine ›gefühlte Gemeinschaft‹, weil er auf Wertorientierung und Zusammengehörigkeitsgefühl aufbaut. Ob dies jedoch eins zu eins von der reellen in die virtuelle Welt übertragen werden kann, ist fraglich. Studien belegen, dass der erhöhte Konsum von sozialen Medien signifikant mit einer erhöhten Depression verbunden ist. Im Moment scheint aber, dass die sozialen Medien der einzige soziale Raum sind, wo die unterschiedlichen Formen der Distanz […] außerhalb der eigenen vier Wände noch möglich sind. Sie bieten Mittel und Wege, diese verordnete Distanzierung auszuhalten, Solidarität auszusprechen, Informationen und psychologische Unterstützung anzubieten.«
  • Timo Seidl (6.4.2020, digital society blog): »Somewhat paradoxically, then, the coronavirus might provide a window of opportunity to start regulating big tech in a similar way as we regulate other public utilities; not despite the fact that they are currently indispensable but because of it. […] if tech companies are effectively operating like public utilities, why don’t we regulate them like public utilities – instead of hoping that they act like ones? Such regulatory action is out best hope to put the current revival of everyday digital utopianism – the wide-spread experience that digital technologies might not be so bad after all – on a more solid and durable institutional footing.«
  • S. Harris Ali & Fuyuki Kurasawa (22.3.2020, The Conversation): »Pandemics will require co-ordinated global response strategies. Digital corporations and social media platforms can and must be at the heart of these strategies, since their responses and willingness to collaborate with governments and public health officials will determine whether social media is viewed as a beneficial or pathological vector of pandemic response. At present, it’s imperative to develop policies and mechanisms that address the digital creation and spread of misinformation about disease outbreaks. To do this will require that biomedical knowledge about pandemics be supplemented by expertise about their social, political and cultural underpinnings.«
  • Ralf Lankau (29.3.2020, blog): »Viele Akteure in Bildungseinrichtungen erleben gerade ein Déjà-vu. Digitalisten und Daten-Ökonomen nutzen die Corona-Pandemie, um ihre lange bekannten Digitalisierungsstrategien und darauf aufbauende Geschäftsmodelle zu propagieren. Covid-19, geschlossene Kitas und Schulen und das dadurch notwendig gewordene, flächendeckende Home Schooling sind der aktuelle Anlass, Bekanntes zu preisen. […] Ziel ist die seit Jahren propagierte Ökonomisierung und Privatisierung auch des deutschen Bildungssektors. Die Praxis zeigt aber: Wir müssen Informationstechnologie […] neu denken, bevor (!) sie in Schulen zum Einsatz kommen kann.«
  • Sascha Dickel (5.4.2020, FR): »Wir sind gerade dabei, uns neue Routinen anzugewöhnen. […] Plötzlich merkt man, dass Homeoffice doch klappt, dass sich Bildung auch digital organisieren lässt. […] Die Dinge sind nicht eins zu eins übertragbar. Sie funktionieren digital nicht genauso wie analog. […] Man kann Vorlesungen aufzeichnen und Sprechstunden virtualisieren, aber eine Diskussion in einem Seminar mit 30 Personen bei Skype abhalten, das geht nicht. Die körperliche Co-Präsenz kann man nicht einfach ins Digitale reinkopieren.«

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