Corona-Krise und Soziologie (2)

20. März 2020

Mit jedem weiteren Tag zeichnet sich immer deutlicher ab: Die Corana-Krise wird das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische bzw. öffentliche und private Leben nicht nur für einige Wochen, sondern für viele Monate und Jahre prägen – und es gehört nicht viel dazu, um vorherzusagen: Das ist ein Einschnitt, an den wir unser ganzes weiteres Leben immer wieder zurückdenken werden. Ich möchte an dieser Stelle wie schon im letzten Post einfach, unkommentiert und naturgemäß selektiv einige Stimmen dazu aus der Soziologie dokumentieren, die in dieser Zeit auch eine seismographische Funktion erfüllt (bzw. einnehmen sollte):

  • Annette Treibel-Illian (16.3.2020, BNN): »Es entwickelt sich […] ein anderes Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Privatsphäre ist aktuell sehr gefragt. Das ist vernünftig, aber es führt auch zu einer größeren Belastung und Frust. Unsere gesellschaftliche Arbeitsteilung bricht weg. […] Menschen neigen dazu, Komplexes zu vereinfachen, und dabei unterlaufen Fehler. Ich spüre aktuell eine kleine rassistische Schieflage. Man hört schon eher von Anfeindungen gegenüber Asiaten als von welchen gegen Südtiroler. […] Gerade online findet sich schon einiges an Panikmache. Im rechten Spektrum nehme ich das beispielsweise wahr. [….] In den klassischen Medien fällt mir derzeit kaum übertriebene Berichterstattung auf. […] Wichtig ist: Gute Informationen – egal auf welchem Weg sie verbreitet werden – sind für die Menschen essenziell.«
  • Armin Nassehi (18.3.2020, Deutschlandfunk): »Diese Episode ist natürlich deshalb schön, weil sie […] zeigt, wie voraussetzungsreich normalerweise unsere Praktiken im Alltag sind. […] Ich bin ein bisschen desillusioniert darüber, weil ich immer dafür gekämpft habe, zu sagen, eigentlich sollten wir in einer Gesellschaft leben, in der wir, wenn es um Dinge geht, die wichtig sind, auf Verbote möglichst verzichten sollten […]. Es wird eigentlich im Moment noch viel, viel deutlicher, dass wir in sozialen Strukturen leben. Das fällt uns nur sonst nicht auf, weil wir die so selbstverständlich kennen […]. […] die Routinen des Alltags werden außer Kraft gesetzt, und das setzt natürlich in der Gesellschaft Stress frei […].«
  • Ivan Krastev (20.3.2020, ZEIT): »Das Coronavirus aber wird den Staat auf ganzer Linie zurückbringen. Die Bürgerinnen und Bürger verlassen sich auf die Regierungen, dass sie die kollektive Abwehr der Pandemie organisieren und dass sie die Wirtschaft retten. […] Das Coronavirus bringt einmal mehr den Nimbus der Grenzen zum Vorschein und wird dazu beitragen, die Rolle der Nationen innerhalb der Europäischen Union zu stärken. […] Die allermeisten Menschen sind sehr offen dafür, ihr Vertrauen in Experten zu setzen und der Wissenschaft zu folgen, wenn ihr eigenes Leben auf dem Spiel steht. Das lässt sich bereits daran beobachten, wie sehr die Fachleute, die den Kampf gegen das Virus anführen, an Legitimität gewinnen. Professionalität ist wieder in Mode.«
  • Heinz Bude (20.3.2020, Welt): »Die Erfahrung von Solidarität ist heute nicht mehr die von Ausbeutung und Unterdrückung einer großen Gruppe, sondern die der Verletzlichkeit von Einzelnen. Das ist deshalb eine wichtige Erkenntnis, weil darin die Abkehr von einem neoliberalen Selbst- und Gesellschaftsbild steckt: Solidarität ist nicht etwas für die anderen, die nicht so stark und so schlau wie wir sind. Solidarität brauchen wir alle, weil wir ohne die anderen nur schwach und beschränkt sind. […] Die Botschaft des Virus lautet: Der Neoliberalismus ist vorbei! Die Globalisierung ist kein Naturgesetz! Das Individuum ist verletzlich! Daraus folgen eine Hochschätzung der kleinen Lebenskreise, das Bewusstsein von der Notwendigkeit einer nicht rein marktförmigen Fundamentalökonomie und die Wendung von einem normativen zu einem existenziellen Denken.«
  • Richard Sennett (19.3.2020, Tagesspiegel): »Wie jede Pandemie ist auch diese ein vorübergehendes Phänomen. Aber für manche Länder mache ich mir Sorgen darum, dass die Notfallmaßnahmen, wie sie nun überall ergriffen werden, dauerhaft installiert bleiben. Gesetze gegen öffentliche Versammlungen, die für einen bestimmten Zeitraum erlassen werden, könnten weiter gelten, sodass die Versammlungsfreiheit langfristig beeinträchtigt wird. […] Wir müssen wachsam sein und jedem Versuch mit Misstrauen begegnen, der die Maßnahmen zur Eindämmung der Krise nutzt, um Machtpositionen auszubauen und zu verfestigen. […] Der Ausnahmezustand darf nicht zur neuen Normalität werden.«
  • Martina Franzen (16.3.2020, SozBlog): »Die politischen Entscheidungen in der Corona-Krise bauen derzeit vorrangig auf wissenschaftliche Einschätzungen von Expertinnen aus der Virologie und Epidemiologie. […] Bemerkenswert daran ist, dass die Stimme der Wissenschaft hier eben gerade nicht apodiktisch daherkommt, sondern ganz nah am laufenden Forschungsprozess auch Revisionen […] miteinschließt […]. Aber reicht die medizinische Einschätzung in dieser Krise für Politik und Öffentlichkeit aus oder braucht es nicht endlich vielfältigere Stimmen aus der Wissenschaft, und zwar zu den ökonomischen, politischen und sozialen Implikationen? […] Wäre das nicht Teil des öffentlichen Auftrags der Soziologie […], ihre relevanten Erkenntnisse in dieser Ausnahmesituation einzubringen, und zwar auch zu präventiven Zwecken für die Gesellschaft unter Quarantäne?«

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Ein Kommentar zu “Corona-Krise und Soziologie (2)”

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