Zwei aktuelle Beispiele für das komplementäre Verhältnis von Social Web und Massenmedien

17. Januar 2015

Die These, dass professionell geführte Massenmedien als ›Intermediäre‹ auch in Zukunft aus der modernen Gesellschaft nicht wegzudenken sind bzw. journalistische Angebote und das Social Web weniger in einem konkurrierenden als in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen, etabliert sich nach einer Phase des anfänglichen Hypes um die erweiterten kommunikativen Möglichkeiten zunehmend in der Mitte des sozialwissenschaftlichen Diskurses (siehe auch Adolf/Deicke 2015).

Nichtsdestoweniger zeigen zwei aktuelle Beispiele, wie sich die medialen Aufmerksamkeitsdynamiken durch die Onlinetechnologien und die zunehmende Medienkonvergenz verändert haben.

(1) »Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von […]«

Entgegen dem allgemeinen Eindruck ist die Twitter-Nutzung hierzulande noch immer kein Massenphänomen. Allerdings werden die inzwischen rund 500 Mio. weltweit geposteten Tweets pro Tag und deren Verbreitungswellen durch journalistische Redaktionen auf der Suche nach Themen regelmäßig beobachtet (vermutlich auch, weil sich so kostengünstig augenscheinlich gerne gelesene Inhalte wie die allwöchentlichen Kommentar-Strecken zum sonntäglichen Tatort generieren lassen).

Auf diese Weise geraten aus der schieren Masse an minütlich geteilten Twitter-Statements regelmäßig einige wenige auf die allgemeine öffentliche Agenda – entweder durch die explizite Selektion durch Journalisten oder durch die virale Diffusion auf kommunikativer Meso-Ebene, die mit der Zeit einen erheblichen Integrationsdruck gegenüber massenmedialen Anbietern erzeugen kann.

Ein aktuelles Beispiel für diesen vergleichsweise neuartigen Modus des Bottom-Up-Agenda-Settings besteht in einem kritischen Tweet der 17-jährigen Schülerin Naina, die normalerweise eher über Hauttypen oder Mikrowellen-Popcorn twittert:

»Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.« (@nainablabla, 10.1.2015)

In den nachfolgenden Tagen extensiv geteilt bzw. mit Retweets besehen und hernach von journalistischen Anbietern wie Spiegel Online oder auch Express und Bild übergreifend verbreitet, erlangte die Schülerin kurzfristig und ungewollt bundesweite Bekanntheit (inklusive einem Auftritt in der bildungspolitisch seit jeher engagierten Sendung TV total und der mittlerweile leider üblichen Pöbeleien im Web).

In der Tat wäre eine solch rasche wie unbeabsichtigte Sichtbarkeitskarriere wohl noch in den 1990er Jahren ganz und gar unwahrscheinlich gewesen. Statt ihren Frust in knapp 140 Zeichen in die (virtuelle) Tastatur zu hauen und sich danach wieder ihrem Alltag zu widmen (auch in ihren Tweets), hätte sich Naina erfolgreich an einen journalistischen Anbieter wenden (z.B. per Leserbrief) oder zufälligerweise in eine Umfrage- oder Interview-Situation geraten müssen.

Dennoch lässt sich in diesem Fall m.E. nicht – wie etwa vor einigen Jahren im Kontext des umstrittenen Köhler-Interviews – von einem dezidierten »Schubs« aus dem Social Web sprechen, auf den die etablierten Massenmedien schlicht hätten reagieren müssen: Wie jeden Tag erlangten auch am 10. Januar tausende andere Tweets jede Menge Retweets und mit Sicherheit waren darunter auch andere mehr oder minder pointierte Kommentare zum deutschen Schulsystem.

Die öffentliche Durchschlagskraft genau dieses Tweets kann vice versa eben gerade auf eine Kette journalistischer Entscheidungen zurückgeführt werden – von der ersten Auswahl, der Weiterverbreitung durch andere Anbieter, der Formatierung als öffentliche Debatte bis hin zur Auswertung auf allen verfügbaren medialen Kanälen (inklusive ausführlicher Folgeberichterstattung nach allen Regeln der Kunst).

Dass Naina K. (17) aus Köln nun als »Twitter-Star« tituliert wird, hat sie klassischen massenmedialen Selektionsleistungen zu verdanken; dass uns Dario S. (16) aus Degerloch trotz seiner Social-Web-Aktivitäten noch unbekannt ist, lässt sich ebenfalls darauf zurückführen. Ohne den Tweet von Naina wäre die aktuelle schulkritische Diskussion gleichwohl nicht (oder nicht auf diese Weise) angestoßen worden.

(2) »Die Verschwörung von Paris«

Ein weiteres Beispiel für die diskussionsfördernde Kraft des Social Webs für die allgemeine Medienöffentlichkeit besteht in der derzeitigen Debatte um die Inszenierung der Bilder führender Politiker an der (mutmaßlichen) Spitze des Trauermarsches am 11. Januar nach den Terroranschlägen in Paris.

In der Tagesschau wie auch in vielen anderen internationalen Nachrichten-Medien war nicht zu sehen, dass zwischen den ca. 40 Staats- und Regierungschefs und dem eigentlichen Trauermarsch aus Sicherheitsgründen ein räumlicher Abstand eingehalten wurde. Kai Gniffke, Chefredakteur der Tagesschau, verteidigte diese Auswahlentscheidung (nach einer ersten sehr emotionalen Reaktion) wie folgt:

»Den Sicherheitsabstand konnte man in der Nachmittagsübertragung im Ersten sehen. Er wurde nicht unterschlagen. In dem Bericht in der Tagesschau um 20 Uhr war der Sicherheitsabstand nicht zu sehen, weil er normal ist, weil es diesen Sicherheitsabstand bei jedem Auftritt von so vielen Staatschefs gibt. Die Kundgebung selbst war für die Berichterstattung meines Erachtens erheblich wichtiger als die üblichen Sicherheitsvorkehrungen.«

Der freie Medienjournalist Stefan Niggemeier hingegen teilt diese Meinung nicht, sondern notierte mit Blick auf die Empörung im Social Web und die darauf folgende Medienberichterstattung dazu in seinem Blog:

»Ich kann verstehen, dass Menschen das ärgert, wenn sie das erfahren. Wenn sie Grund haben anzunehmen, dass Journalisten ihnen etwas vormachen und Komplizen bei einer Inszenierung sind, anstatt diese Inszenierung kenntlich zu machen. Natürlich ist jede Auswahl eines Fotos oder eines Filmausschnittes eine subjektive Entscheidung. Es ist aber nicht die Aufgabe von Journalisten, den Aufmarsch von mehreren Dutzend Staats– und Regierungschefs durch eine geschickte Wahl der Perspektive besonders eindrucksvoll wirken zu lassen. […] das gehört durchaus zur Aufgabe eines Journalisten, ein schönes, gefühliges, scheinbar stimmiges Bild zu stören.«

Beide Aussagen kann man je nach Beobachtungswarte so stehen lassen. Interessanter ist m.E. in diesem Kontext, dass die aktuelle öffentliche Debatte um die Kraft der Bilder in Nachrichtensendungen ohne die latent bis explizit köchelnde Diskussion im Social Web (z.B. auf Twitter), die mitunter leider auch verschwörungstheoretische Tendenzen annahm, sowie die massenmediale Folgeberichterstattung, die wiederum darauf folgte (z.B. StZ, Le Monde, Spiegel Online), nicht auf diese Weise stattgefunden und sich Kai Gniffke wohl kaum zu einer solchen Reaktion bemüssigt gefühlt hätte.

Natürlich bleibt massenmediale Berichterstattung notwendigerweise stets ein höchst selektives gesamtgesellschaftliches Bezugskonstrukt. Gleichwohl lässt sich durch die erweiterten Austauschmöglichkeiten auf Meso-Ebene nun deutlich rascher nachvollziehen, ob die Leistungen journalistischer Anbieter von den Erwartungen abweichen, die an sie mit Blick auf ihre gesellschaftliche Funktion gerichtet werden, da sich im Social Web deutlich unkomplizierter auf Irregularitäten, Unschärfen und Auslassungen aufmerksam machen lässt.


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