Nonkonformismus

19. September 2011

Sozialer Wandel wird (auch) durch Nonkonformisten vorangetrieben, das steht außer Frage: Martin Luther beispielsweise lässt sich nicht einfach als Membran für die strukturaufbrechende Wirkung des Buchdrucks oder als Variable in einem Phasenwechsel zwischen priesterdominiertem und säkularem Wissen beschreiben (vgl. Elias 2001), denn rückblickend lässt sich kaum absehen, ob ohne sein Auftreten vielleicht ein anderer Reformator vergleichbare Dynamiken angestossen hätte oder ähnliche persönliche Risiken eingegangen wäre.

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Wie aber unterscheiden sich heute Nonkonformisten von Konformisten? Was genau ist ihre Funktion in einer liberalen Gesellschaft? (Kann man sich schon als Nonkonformist bezeichnen, wenn man die Piratenpartei wählt?) Heinz Bude hat sich im aktuellen Merkur (9/10 2011) mit diesen sowie ähnlichen Fragen auseinandergesetzt und dabei ist ein sehr lesefreundlicher (kostenfrei abrufbarer) Artikel entstanden, dessen einleitender Absatz sich aus systemtheoretischer Sicht ähnlich fassen ließe:

»Offene Gesellschaften rechnen mit Nonkonformisten. […] Karl Mannheim hätte seinerzeit gesagt, es sind die Protagonisten der Unruhe, die die ›Konkurrenz auf dem Gebiete des Geistigen‹ beleben. […] Es geht um kognitive Irritationen wie um normative Rebellionen.«

Wo aber lassen sich solche Nonkonformisten finden? Bude beginnt wenig überraschend mit der Soziologie, fährt dann aber – für manchen Leser vermutlich doch etwas verblüffend – u.a. mit Wirtschaft und Politik fort:

»Die Soziologie offener Gesellschaften hat der nonkonformistischen Dissidenz immer schon theoretisches Gewicht verliehen. Für den Bereich der Ökonomie hat Joseph Schumpeter den Unternehmer als das nonkonformistische Movens kapitalistischer Steigerung bestimmt. Im Unterschied zum ›Wirt‹, der seine Position auf einem konsolidierten Markt ausbaut, sucht der ›unternehmerische Unternehmer‹ neue Märkte mit anderen Expansionschancen zu erschließen. […] Für den Bereich der Politik hat man mit Max Weber den Nonkonformisten, der den Betrieb überwindet und die Massen bindet, als Charismatiker gekennzeichnet. […] Es ist die auf den ganz und gar Einzelnen zugeschnittene charismatische Bewährung, die in höchster Gefahr und tiefster Not einen Ausweg für alle eröffnen soll.«

In unserer modernen, als offenen gekennzeichneten Gesellschaft sollte es indes eigentlich kein Problem mehr darstellen, gegen den Strom zu schwimmen – jedenfalls führt normative bzw. kognitive Rebellion nur noch in den seltesten Fällen zu ernsthaften Restriktionen. Trotzdem aber, so scheint es, herrscht ein allgemeines Unbehagen gegenüber dem Nonkonformismus, das sich Bude wie folgt erklärt:

»Nicht die glorreiche Freiheit eines Selbstbewusstseins ist es, was die Leute von heute sich wünschen, sondern die freundliche Geschmeidigkeit, was an einem in den Augen der anderen diskreditierbar ist, in etwas Bemerkenswertes und Einzigartiges zu verwandeln. […] Mit Niklas Luhmann gesprochen: Es hat die Umstellung von Prinzipientreue auf Anschlussfähigkeit stattgefunden. […] Deshalb sucht die offene Gesellschaft in den Vorstellungen einer Schwarmintelligenz […] ihr Heil. So kann man glauben, dass nicht mehr der nonkonformistische Einzelne an der Zeit ist, sondern die kontaktsensible, empathiebegabte und kommunikationskompetente Fließexistenz.«

Und schließlich stellt Bude in seinem Artikel zur gesellschaftlichen Rolle der Nonkonformisten noch eine Gemeinsamkeit zwischen Verharrenden und Unruhigen heraus, über die sich trefflich diskutieren lässt:

»Die Beweglichen sind genauso von sozialer Angst getrieben wie die Standhaften. Dann zählen nur noch beispielgebende Einzelne, die sich nicht mit der Ausrede zufriedengeben, dass man lieber Institutionen verbessern sollte als Individualitätstypen zu pflegen.«