Niklas Luhmann über Technik und Gesellschaft

13. August 2014

»Inzwischen hat sich die Gesellschaft an Technik gewöhnt« – so formuliert es Niklas Luhmann aus evolutionstheoretischer Perspektive im dritten Kapitel seines Buches Die Gesellschaft der Gesellschaft (GdG, 1997). Viele technische Errungenschaften der Moderne erscheinen uns selbstverständlich oder werden uns erst bewusst, wenn sie einmal nicht funktionieren, z.B. falls die Wasserversorgung unterbrochen wird, es zu einem Stromausfall kommt oder die Onlineverbindung instabil wird:

»[…] die Abhängigkeit von funktionierender Technik hat zugenommen mit der Folge, daß ein Zusammenbruch der Technik […] auch zu einem Zusammenbruch der uns vertrauten Gesellschaft führen würde. […] in allen gegenwärtigen Operationen muß die gesellschaftliche Kommunikation Technik voraussetzen und sich auf Technik verlassen können, weil in den Problemhorizonten der Operationen andere Möglichkeiten nicht mehr zur Verfügung sind. Und der Zeitbedarf der Ablösung von Technik […] wäre derart groß und die sachlichen Konsequenzen wären derart gravierend […], daß eine Umstellung […] praktisch ausgeschlossen ist.« (GdG, Kap. 3, IX)

techniknatur

Vor dem Hintergrund der (gerade auch in den 1980er- und 1990er Jahren erneut offenbar gewordenen) engen Verweisungszusammenhänge zwischen Natur, Technik und Gesellschaft markiert Luhmann die »Kontrastierung von von Technik und Natur oder Technik und Humanität« als weithin »verbraucht«:

»Noch heute wird auf vielfältige Weise geklagt, daß die Technik nicht genügend kontrolliert werde (wobei bemerkenswerterweise der Markt als Kontrolle unberücksichtigt bleibt oder für nicht ausreichend befunden wird), aber der Klage […] liegt keine klare Vorstellung des Problems zugrunde.

[…] Wenn die Naturwissenschaft selbst den (beobachterunabhängigen) Naturbegriff aufgelöst hat und sich im ökologischen Kontext Technik und Natur auf untrennbare und unprognostizierbare Weise mischen, macht es keinen Sinn mehr, Phänomene nach der Unterscheidung Technik/Natur zu ordnen. Technik wird wieder zur Natur, zur zweiten Natur, weil kaum jemand versteht, wie sie funktioniert, und weil man dies Verständnis in der Alltagskommunikation auch nicht mehr voraussetzen kann.« (GdG, 3, IX)

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts erkennt Luhmann indes einen fundamentalen Wandel im Verhältnis von Gesellschaft und Technik: Während es im 19. Jahrhundert noch vordringlich darum ging, menschliche Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen und den »Transport von Dingen und Körpern zu beschleunigen«, habe der Computer »die Technik von Körpern und Dingen auf Zeichen verlagert, deren Sinn darin besteht, andere Zeichen zugänglich zu machen« (GdG, Kap. 3, IX):

»Im Verhältnis zu Maschinen hat die Technologie elektronischer Maschinen für Datenverarbeitung eine Umorientierung ausgelöst. Diese Maschinen können nicht mehr als Supplemente körperlicher Aktivität aufgefaßt werden und erzwingen deshalb eine Neubeschreibung des Verhältnisses von Mensch und Maschine. Forschungen über ›artificial intelligence‹ zeigen diese Veränderungen an — bis hin zu der Frage, ob die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine überhaupt noch eine kognitionstheoretisch adäquate Problemstellung ist.« (GdG, Kap. 1, VII)

›Technik‹ versteht er dabei im Unterschied zu den im sozialen Bereich meist gegebenen losen Kopplungen (z.B. zwischen Organisationen) als »feste Kopplung von kausalen Elementen, gleichviel auf welcher materiellen Basis diese […] beruht«:

»Dieser Begriff schließt menschliches Verhalten ein, sofern es ›automatisch‹ abläuft und nicht durch Entscheidungen unterbrochen wird. Zum Beispiel gehört die Entwicklung der problemlosen Lesefähigkeit (zu unterscheiden vom Verstehen der Texte) zur Technologie der Druckpresse und ist als ihr Korrelat entwickelt worden. Ähnliches gilt für die Fähigkeit, Autos zu fahren […] und für sonstige Fälle der Maschinenbedienung.

[…] Feste Kopplungen ermöglichen im Umgang mit Technik eine erhebliche Vereinfachung. Innerhalb der Computer […] ermöglichen sie ein Arbeitstempo, das bewusstseinsmäßig nicht mehr nachvollzogen und kontrolliert werden kann. Vor allem reduziert Technik den Konsensbedarf. Das Funktionieren selbst kann vorausgesetzt werden; und zwar so vorausgesetzt werden, dass man voraussetzen kann, dass auch die anderen es voraussetzen.« (Organisation und Entscheidung [OuE], Kap. 12, II)

Daneben macht Luhmann allerdings insbesondere im Kontext von Organisationen – aber auch mit Blick auf die Gesamtgesellschaft – eine Reihe von Folgeproblemen aus, die s.E. aus dem vermehrten Einsatz von Technik resultieren:

»Die Technik kann zwar Störungen registrieren, soweit sie an ihr selbst auftreten. […] Aber feste Kopplung heißt immer auch: Begrenztheit der Diagnose- und Lernanforderungen. Was ein Vorteil ist im Sinne einer Bedingung der Möglichkeit spezifischer Reaktionen, ist auf der anderen Seite ein Nachteil, wenn das Problem jenseits der Austausch- und Reparaturmöglichkeiten liegt. Eine sauber und feinstellig angefertigte Kontenführung gibt zumeist keinen Aufschluss in der Frage, wie einem Unternehmen, das in Schwierigkeiten geraten ist, geholfen werden kann. Organisationen, die Arbeitsvollzüge technisieren, werden demnach immer feste Kopplungen und lose Kopplungen nebeneinander und im Verbund miteinander vorsehen müssen. (OuE, Kap. 12, II)

[…] Die moderne Gesellschaft ist wie keine Gesellschaft vor ihr abhängig von Technik. Störungen können Folgen haben, die sich lawinenförmig ausbreiten. Ein Zusammenbruch der Energieversorgung und damit der Technik würde den meisten Menschen ihr Leben kosten, würde also nicht nur auf die gesellschaftliche Kommunikation einwirken, sondern massiv in deren Umwelt durchschlagen: man würde nicht nur darüber reden, man würde sterben. […] Eine Techniksoziologie müsste sich mit der Frage befassen, wie viele feste Kopplungen sich eine Gesellschaft leisten kann.« (OuE, Kap. 12, IV)

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Literatur: Luhmann 1997; Luhmann 2000