Norbert Elias und der Fußball
8. Mai 2013Norbert Elias (1897–1990), einer der Klassiker der europäischen Soziologie, beschäftigte sich mit langfristigen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, so etwa mit der Entstehung des modernen Zeitverständnisses und den damit einhergehenden soziokulturellen Verflechtungen, mit dem Wandel der Persönlichkeitsstrukturen vom Mittelalter bis hinein in die Neuzeit – oder auch mit der Genese und Entwicklung des Sports. Insbesondere interessierte sich Elias (1983: 21) dabei für das Fußballspiel:
»Spannung und Entspannung im Fußballspiel ist ein – gewiss ein besonders gelungenes – Beispiel für ein psycho-soziales Muster unseres Lebens, das, wenn ich mich einmal so ausdrücken darf, als Antwort auf ein sehr elementares menschliches Bedürfnis verdient, ernst genommen zu werden. […] Ich bin nicht sicher, dass wir Freizeitbedürfnisse, wie sie etwa auch bei der Anteilnahme am Fußballspiel zum Ausdruck kommen, so wie sie das verdienen, schon wirklich verstehen.«
Um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum sich in der modernen Gesellschaft so viele Menschen für das Spiel mit dem Lederball interessieren, begab sich Elias zusammen mit Eric Dunning (2003: 316) auf Spurensuche und stellte anhand von obrigkeitlichen Erlassen fest, dass erste Vorformen des Spiels in England bereits im 14. Jahrhundert praktiziert wurden, die »auf simplen, ungeschrieben Gewohnheitsregeln« basierten und sich noch nicht durch einheitliche Spielfeld-Begrenzungen, Spielzeiten oder Mannschaftsgrößen kennzeichneten.
Trotz zahlreicher Verbote durch die Obrigkeiten, die in dem Spiel aufgrund auftretender schwerwiegender Verletzungen unter anderem eine Gefahr für die allgemeine Militärtauglichkeit sahen, ließ sich die Ausbreitung des Spiels in den nachfolgenden Jahrhunderten nicht verhindern, auch weil der Kampf um den Ball (z.B. zwischen benachbarten Dörfern) augenscheinlich schon damals als ein Instrument zur Identitäts- und Konfliktbewältigung fungierte (Elias/Dunning 2003: 334):
»Man verstieß ganz offensichtlich gegen königliche Gesetze und missachtete die Verbote der örtlichen Vertreter der Krone, doch dies hinderte die Bauern und die Grundherrn ebenso wenig, wie unvermeidliche Knochenbrüche und gelegentlich tödliche Verletzungen, an dem Spiel festzuhalten.«
Die heutige Form des Fußballspiels hält Elias (1983) dabei für ein »Symptom einer relativ hohen Zivilisationsstufe«, denn zum einen ist jeder einzelne Spieler in zahlreiche Verflechtungskontexte inner- und außerhalb seines Teams eingebunden:
»Der Einzelne will sich auszeichnen, aber er muß zugleich ständig auf seine Mitspieler eingehen, es gibt also auch eine ständige Spannungsbalance zwischen Konkurrenz und Kooperation innerhalb einer Mannschaft selber. […] selbst dann, wenn er in einer Situation ist, wo es um Sieg oder Niederlage geht, muß er sich soweit beherrschen, die Regeln nicht zu durchbrechen, weil er andernfalls die Niederlage – zum Beispiel durch Platzverweis – herbeiführen könnte.«
Und zum anderen müssen alle Beteiligten – Zuschauer, Spieler, Schiedsrichter, Trainer – ein hohes Maß an emotionaler Selbstkontrolle aufbringen, damit ein Spiel in seiner gewohnten Form ablaufen kann, auch wenn uns Zuschauern Wutausbrüche, Foulspiele und Übersprungshandlungen viel eher im Gedächtnis bleiben:
»Was wir heute vor allem sehen […] sind die vielfältigen Gewalttätigkeiten […]. Die Aufmerksamkeit lenkt sich also […] mehr auf die Ausnahmen […] als auf die normalen Spiele, von denen ja sehr viele eben doch eine Form des Kampfes nach Regeln darstellen, die gewissermaßen die Nachahmung von Kämpfen sind. […] Im Kern ist [ein Fußballspiel] eine Figuration von Menschen, die in kontrollierter Spannung zueinander stehen […]. Daß die Spannungen zwischen zwei Mannschaften so oft unter Kontrolle und in Balance gehalten werden können, das ist mindestens eine ebenso erstaunliche Tatsache wie die, daß diese Balance eben manchmal zerbricht.«
Gleichwohl aber ist es Elias (1988) zufolge gerade diese kontrollierte Spannung, die reglementierte Form des Kampfes in einer im Vergleich zu früheren Zeiten weitgehend von unmittelbarer Gewalt befreiten Öffentlichkeit, die Fußballfans ein Leben lang und Gelegenheitszuschauer zumindest punktuell fasziniert:
»Das Fußballspiel ermöglicht es uns, an Kämpfen teilzunehmen, die Lust, die Freude am Kämpfen zu genießen, ohne daß eine wirkliche Gefahr für die Spieler entsteht. Das hat eine kathartische Wirkung. Fußball ist trotz aller Ausschreitungen eine überaus zivilisierte Form, einen Kampf zu genießen. […] Fußball, aber auch der Besuch von Diskotheken, alle diese mimetischen Erregungen haben einen lösenden, reinigenden Effekt. Sie sind kein Luxus, sondern eine Lebensnotwendigkeit mit immer größerer Bedeutung in der heutigen Gesellschaft.«
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Literatur:
Elias, N./Dunning, E. (2003): Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation. Gesammelte Schriften Bd. 7. Frankfurt am Main.
Elias, N. (1988): Wir sind die späten Barbaren. N. Elias im Interview mit N. Festenberg und M. Schreiber. In: Der Spiegel 21/1988, S. 183–190. (PDF)
Elias, N. (1983): Der Fußballsport im Prozess der Zivilisation. In: Lindner, R. (Hg.): Der Satz »Der Ball ist rund« hat eine gewisse philosophische Tiefe. Berlin, S. 12–21.