Lektürehinweis: »Internet-Tsunamis«
2. Februar 2013Seit letzter Woche steht die Studie »Internet-Tsunamis – Politische Massen im digitalen Zeitalter« zur freien Verwendung im Netz. Sie ist das Ergebnis eines interdisziplinären Forschungsprojekts der xailabs GmbH und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und will beleuchten, wie sogenannte »Internet-Tsunamis« entstehen (vgl. S. 18):
»Ein Internet-Tsunami ist die themenbezogene Artikulation bestimmter politischer Meinungen bzw. Positionen von einer großen Anzahl an Menschen in einem sehr kurzen Zeitraum. Meinungsimpulswellen werden dabei durch einzelne Personen, Gruppen oder Mikronetzwerke erzeugt, stoßen im Internet auf verstärkende bzw. multiplizierende Resonanz und erzeugen Informationskaskaden. Diese werden durch die Leitmedien weiter verstärkt und münden in der Bildung politischer Massen in der Offline-Sphäre.«
Die Studie bietet interessante Fallstudien (u.a. GuttenPlag, ACTA, Occupy) sowie Auswertungen aus Interviews mit 50 Personen aus den Bereichen Medien, Wissenschaft, Wirtschaft bzw. Politik (darunter auch drei Aktivisten) und ist in ihren (leider z.T. recht unscharfen) sozialwissenschaftlichen Betrachtungen mitunter auch anschlussfähig an meine Thesen zum Verhältnis von Social Media und Massenmedien (dazu aktuell: »Internet, Mobile Devices und die Transformation der Medien«).
Allerdings bringt das buzzword »Internet-Tsunami« so einige analytische Tücken mit sich, wie sie Till Westermeyer in seinem Blog auflistet:
»Insbesondere missfällt mir die strikte Trennung zwischen Kommunikation im Netz einerseits und ›realer Welt‹ (zu der dann auch die Massenmedien gezählt werden) andererseits. Es ist wohl richtig, davon auszugehen, dass die auslösenden Ereignisse für Internet-Tsunamis solche sein müssen, denen reale Relevanz zuerkannt wird. Aber schon das Erfahren von diesen Ereignissen wird zumeist medial vermittelt geschehen – in »klassischen« Massenmedien oder in Netzkommunikation. […]
Aber die schöne Trennung zwischen ›realer Welt‹ und ›Netz‹ muss ich leider verunklaren: Wo steht die EMail oder die SMS, die weitergeleitet wird? Welche Rolle spielen netzwerkmediale Angebote der Massenmedien? Was ist mit dem Powerpoint-Vortrag auf einer ›realweltlichen‹ Tagung […]?
Und schließlich die letzte Phase, die Brechung der ›Netzwellen‹ in den klassischen Massenmedien und klassischen Formen des politischen Aktivismus. Auch hier ist der Phasenübergang im Bild des Tsunamis vereinfacht – es gibt Rückkopplungen, es gibt an sozialen Medien partizipierende JournalistInnen, Demos auf der Straße können wiederum weitere Diskussionszyklen im Netz auslösen usw. […]
Eine zweite Kritik besteht darin, dass die AutorInnen der Studie teilweise davon ausgehen, dass es sich bei ›Internet-Tsunamis‹ um gelenkte, beabsichtigte Formen des netzpolitischen Aktivismus handelt […]. Der Wunsch, in Zukunft Tsunamis in vitro zu analysieren und zu lenken, ist deutlich herauslesbar. Eine solche Haltung ignoriert die Netzwerkstruktur nicht nur sozialer Medien, sondern auch der heutigen Gesellschaft, die aus meiner Sicht ja gerade durch einen Einflussverlust zentralisierter Institutionen gekennzeichnet ist.«