Digitale Technikutopien

4. Dezember 2024

Gerade ist der Band »Utopien im Unterricht. Theoretische Verortungen – Fächerperspektiven – praktische Beispiele« (herausgegeben von Heinrich Ammerer, Margot Anglmayer-Geelhaar, Robert Hummer und Markus Oppolzer, Open Access) erschienen: »Im ersten Teil des Bandes führen fachübergreifende Grundlagenbeiträge aus verschiedenen Disziplinen in den Themenkomplex ein und bieten sowohl Schlaglichter auf Erscheinungsformen des Utopischen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten als auch grundlegende Definitionen zentraler Begriffe. Die anschließenden fachdidaktischen Beiträge loten den Beitrag der jeweiligen Disziplin zur Entwicklung eines reflektierten Umgangs mit Utopien aus und stellen methodische Zugänge für den Unterricht (inklusive eines Praxisbeispiels) vor.«

Mein Beitrag im Band setzt sich mit digitalen Technikutopien auseinander und kommt zu dem Schluss, dass sich im aktuellen Diskurs (z.B. unter dem Stichwort ›künstliche Intelligenz‹) »viele Erwartungen widerspiegeln, die bereits in früheren Phasen der Computerisierung, Datafizierung und Digitalisierung diskutiert worden sind – von der Angst vor einer Invasion der Privatsphäre bzw. einem Autonomieverlust des Menschen bis hin zu vielfältigen positiven Visionen einer technikbeförderten Lösung großer gesellschaftlicher Herausforderungen (z.B. Klimakrise) […]. Und ähnlich wie in früheren Phasen technologischen Umbruchs treten auch heute die Figuren des berauschten Evangelisten, des besorgten Apokalyptikers und des praktisch Integrierten auf […].« Den Sozialwissenschaften spricht der Beitrag gerade im gegenwärtigen Stadium eine zentrale Rolle zu:

»Aus ihrer kritisch-distanzierten Perspektive können sie zum ersten ein Gegengewicht zu der verbreiteten Überzeugung bieten, dass technische Strukturen per se die Lösung grundsätzlicher gesellschaftlicher Probleme einleiten könnten und blanke Zahlen bei einer hinreichend breiten Datenbasis für sich sprechen.

Zum zweiten fällt es in den Verantwortungsbereich der Gesellschaftsforschung, jenseits aller Apokalyptik auf die Risiken und Nebenwirkungen hinzuweisen, die mit der fortschreitenden Automatisierung der gesellschaft lichen Kommunikation und Koordination einhergehen, und die daraus resultierenden Anforderungen an die individuelle Daten- und Informationskompetenz eindeutig zu transportieren.

[…] Und zum dritten obliegt es den Sozialwissenschaften, zur Vergegenwärtigung der gesellschaftlichen Effekte wiederkehrender Technikerwartungen beizutragen […]: Durch ihre Prägnanz leisten technikzentrierte Eutopien und Dystopien nicht nur einen Beitrag zu der Kanalisierung soziopolitischer Kommunikationsverläufe sowie zur Koordination kollektiver und korporativer Aktivitäten, sondern bieten daneben auch eine Legitimationsgrundlage in politischen und persönlichen Entscheidungsprozessen und erleichtern in Frühnutzermilieus die Abgrenzung gegenüber anderen gesellschaftlichen Sphären.

Darüber hinaus schaffen populäre Technikvisionen Aufmerksamkeit für potenzielle soziotechnische Entwicklungspfade, mit denen sich ab einem gewissen Schwellenwert auch etablierte Organisationen in Wirtschaft und Politik auseinandersetzen (müssen). Und schließlich eröffnen eutopische oder dystopische Technikerwartungen die Möglichkeit, den gesellschaftlichen Status quo als kontingent bzw. veränderbar darzustellen und damit kritisierbar zu machen […]. Insofern bieten digitale Technikutopien durchaus Orientierung – zwar keineswegs darüber, was unsere prinzipiell offene Zukunft bringen könnte, aber doch darüber, welche Bedürfnisse, Befürchtungen und Hoffnungen die gegenwärtige Gesellschaft prägen.«