Wiederkehrende Erwartungen II

16. Juni 2013

Das letzten Sommer erschienene Büchlein »Wiederkehrende Erwartungen: Visionen, Prognosen und Mythen um neue Medien seit 1970« gibt es nun auch als E-Book für den Amazon Kindle – und zwar für 5,99 € (statt gedruckt für 11,90 €). Als ›Teaser‹ gibt es an dieser Stelle erneut ein paar Ausschnitte aus Einleitung und Schluss:

»Das Morgen ist schon im Heute vorhanden« (Jungk 1952: 17) – sei es in Form von Prophetien oder Weissagungen, die bereits frühen Gesellschaften dabei helfen sollten, ihre Umwelt kontrollierbarer zu machen (Elias 2001: 118), oder als »kritische und systematische Beschäftigung mit der Zukunft« (Flechtheim 1972: 11), wie sie sich seit den 1950er Jahren in den Industrienationen etabliert hat. Ohne Orientierung an der Vergangenheit (Identität) und Zukunft (Kontingenz) können weder Bewusstseins- noch Kommunikationssysteme operieren, ohne Erwartungen können Organisationen keine Entscheidungen treffen (Luhmann 1997: 149). Und da sich seit gut vier Jahrzehnten der Eindruck gewinnen lässt, dass die Gesellschaft in einem immer rascheren Takt von kommunikationstechnischen Innovationen überrollt wird, scheint in diesem Bereich der Bedarf an Auguren unerschöpflich zu sein: Nicht erst seit der Etablierung des Web werden regelmäßig apologetische und apokalyptische Erwartungen formuliert, die neuen Medien radikale Effekte in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen zuschreiben (vgl. schon: Bagdikian 1971). […]

Viele der Veränderungserwartungen, die derzeit an Social Media im ›Web 2.0‹ geknüpft werden, haben sich also nicht erst in den letzten Jahren herauskristallisiert, sondern wurden bereits an die neuen Medien der 1970er und 1980er Jahren geknüpft: Schon die ›Bildkassette‹ sollte ihren Nutzern eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber massenmedialen Sendeanstalten ermöglichen, der Bildschirmtext bzw. das Kabelfernsehen sollten zur Schaffung basisdemokratischer Strukturen beitragen, und zeitgleich kursierten Utopien um ein reaktives Kommunikationssystem, das die Überwindung der Rollenverteilung zwischen Konsumenten und Produzenten befördern sollte. Auch im Diskurs um das frühe Internet und um das Social Web war und ist von der Substitution massenmedialer Strukturen durch nutzerzentrierte Austauschprozesse, einem Wandel klassischer Konsumenten zu ›Prosumenten‹ bzw. ›Produtzern‹ und einer netzvermittelten Demokratisierung der Gesellschaft die Rede.

Mit Blick auf die bislang beobachtbaren Nutzungspräferenzen und die inhaltlichen Qualitäten im ›Web 2.0‹ sieht es bislang jedoch kaum danach aus, dass der überwiegende Teil der deutschsprachigen Onliner die neuen partizipativen Möglichkeiten in naher Zukunft ausnutzen könnte: Social-Media-Angebote, welche die Berichterstattung der Massenmedien ergänzen könnten, werden von der allgemeinen Bevölkerung bislang nicht regelmäßig rezipiert; Social Networks dienen primär dem semiprivaten Austausch; die Blogosphäre spielte als Themenmacher für die allgemeine Öffentlichkeit in den letzten Jahren zwar in Einzelfällen eine Rolle, kann aber nicht in tagesaktueller Frequenz mit den Leistungen journalistischer Anbieter konkurrieren.

Bis dato konnten sich die genannten Visionen zu den gesellschaftlichen Effekten interaktiver Medien also kaum erfüllen, sondern sind – gemessen an ihrer Radikalität – von den diversifizierteren Verläufen immer wieder enttäuscht worden. Nichtsdestotrotz haben die Online-Techniken auf den diskutierten Feldern eine Vielzahl gradueller Veränderungen angestoßen, die durch ihre Interaktion mit weiteren Entwicklungen langfristig ganz andere Rückwirkungen nach sich ziehen könnten als vermutet: […]

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, weshalb im Kontext ›neuer Medien‹ regelmäßig erneut radikale Veränderungsthesen Verbreitung erfahren, obgleich ähnlich ausgerichtete frühere Vorhersagen zumeist von den empirischen Entwicklungen enttäuscht worden sind und seit jeher auch differenziertere Einordnungen vorliegen (z.B. Neuberger/Quant 2010; Jarren/Donges 1999). […] Erste erklärende Hinweise für das wiederkehrende Auftreten vergleichbarer Zukunftshorizonte finden sich in den skizzierten Visionsverläufen: […]

wiederkehrende_erwartungen