Stichwort: Aktualität
6. Juni 2013Lothar Müller beschreibt in einem vor einigen Wochen in der Kulturzeitschrift Merkur publizierten Artikel (kostenfreies PDF) eine Situation, mit der wohl jeder Leser gedruckter Zeitungen vertraut ist – z.B. nach dem knappen Wahlsieg der SPD im Herbst 2002, der erst vergleichsweise spät in der Nacht offenbar wurde:
»Wenn die Deadline der Printmedien überschritten ist, wird die Aktualität weiter bewirtschaftet. Während die Zeitungen gedruckt und ausgeliefert werden, setzt sich ihr Staccato im Radio, im Fernsehen und im Internet fort, und wenn die gedruckten Zeitungen am nächsten Tag erscheinen, ist die letzte Hochrechnung, die sie mitteilen, […] von der Aktualität überholt.«
Das heutige Verständnis von ›Aktualität‹ war gleichsam keineswegs seit jeher selbstverständlich, vielmehr hat nicht zuletzt die Zeitung selbst – im Verbund mit den kommunikativen Infrastrukturen der Neuzeit – diese Spielweise moderner Zeiterfahrung hervorgebracht:
»Die Druckerpresse allein war nicht in der Lage, ein Gebilde wie die Zeitung hervorzubringen. Es dauerte nach Gutenberg noch gut 150 Jahre, bis […] die erste gedruckte Zeitung auf den Markt kam. In diesen 150 Jahren hatte sich […] die moderne Infrastruktur des Postwesens in Deutschland entwickelt. […] Das neue Medium, die Zeitung, nistete sich in diese Infrastruktur der Raumerschließung und Beschleunigung der Zirkulation von Waren und Personen ein.«
Erst das Postwesen ermöglichte also jene Verflechtung von Aktualität, Publizität, Periodizität und Universalität, welche die Notwendigkeit einer ›Deadline‹ provoziert:
»Die Deadline der auf Papier gedruckten Zeitung ist [.] ein Effekt nicht nur der Aktualität, sondern auch der Publizität. Denn die Dauer des Druckvorgangs ist eine Variable nicht nur der Leistungsfähigkeit der Druckmaschinen, sondern auch der Auflagenhöhe. […] Wie viel aber überhaupt zu drucken und zu vertreiben ist, das wird wiederum vom Anspruch auf Universalität mitbestimmt […]. Die aus der Publizität und Universalität resultierenden Faktoren […] führen im Verein mit den Forderungen der Aktualität und Periodizität zur Härte der Deadline […].«
Das heutige Gegenwartsbewusstsein und damit auch der moderne Begriff der Aktualität entstand Müller zufolge jedoch erst nach Auftreten der Zeitung: Während actual (engl.) noch immer der lateinischen Begriffstradition folgt und insofern das Reale und Tatsächliche bezeichnet, bildete sich im französischen und deutschsprachigen Raum zunehmend eine veränderte Definition heraus:
»In ihr wurde aus dem Wirklichen, Realen der philosophischen Tradition der temporale Aspekt herausgehoben und zum Begriffskern des Aktuellen gemacht. ›Ce qui se passe au moment présent‹ – das ist der Stoff, aus dem die Zeitungen gemacht sind. […] die Zeitungen verwandeln die Welt in etwas, das sich ständig ändert, sind Resonanzverstärker des ökonomischen, technologischen und politischen Wandels.«
Als Speerspitze der Aktualität ist die Zeitung mithin nicht erst durch das Internet, sondern bereits durch die Rundfunkmedien des 20. Jahrhunderts abgelöst worden. Nichtsdestoweniger sieht Müller aber unabhängig vom konkreten Trägermedium keineswegs das Ende der Zeitung als inhaltlich abgeschlossenes Produkt gekommen:
»Seit der Etablierung des Kurznachrichtendienstes Twitter ist es im professionellen Online-Journalismus häufig unmöglich geworden, Nachrichten schneller zirkulieren zu lassen, als dies die potentiellen Nutzer selber tun. […] An die Stelle des Wettbewerbs um die harte, zeitbasierte Aktualität tritt daher der Wettbewerb um die ›weiche Aktualität‹. Die Formel dafür lautet: ›nach einiger Zeit die beste Geschichte zu haben, die im Netz empfohlen, versendet, verlinkt wird‹.
[…] Die Asymmetrien zwischen den […] zu Hybriden heranwachsenden Print- und Online-Formaten der Zeitungen beruhen darauf, dass letzteren eine Fülle von Optionen offenstehen, die den Printformaten unzugänglich bleiben. Diese Optionen werden aber, nicht anders als in der Frühgeschichte der Zeitung, zum Rohstoff der Nachrichten, zum Gegenstand redaktioneller Bewirtschaftung, oder anders gesagt: der Verknappung. […] Darum ist die Zeitung im Printformat […] nicht lediglich ein Mängelwesen. Für die aus ihren Produktionsbedingungen und ihrem Trägermedium resultierende Abgeschlossenheit werden sich in den Online-Formaten Entsprechungen bilden müssen, die sich der Abundanz von Optionen entgegenstellen.«