Tobias Bevc zum demokratischen Potential des Web 2.0 (Literaturhinweis)
4. September 2011Tobias Bevc hat einen lesenswerten Artikel zum optisch nicht mehr ganz taufrischen Online-Magazin Telepolis beigesteuert, der einige »Überlegungen zum demokratischen Potential des Web 2.0« anstellt und teilweise zu recht kruden Kommentaren (1, 2, 3) geführt hat (die hier nicht näher diskutiert werden sollen, aber im Kontext der angeschlagenen Thematik wiederum zu Denken geben).
Zugegeben, der Autor holt theoretisch weit aus – was beileibe nicht jedem Leser schmecken muss – und lässt seine Ausführungen bei der Rolle der intellektuellen Zeitschriften im Kaiserreich beginnen:
»Die Berlinische Monatsschrift stellte im absolutistischen Preußen […] eine Art literarische Bühne der Aufklärung dar, die das gebildete Bürgertum auch über weite Räume versammelte und so die bürgerlichen Salons in Berlin und anderen Städten kurzschloss. Diese Zeitschriften waren, mit McLuhan gesprochen, eine “Extension of Man” in der Hinsicht, dass sie die mündlichen Debatten in privaten geschlossenen Räumen nach außen in die Öffentlichkeit trugen und weit entfernte Bürger zusammenführte zu einem aufgeklärten, politischen Publikum.«
Danach setzt er sich mit Immanuel Kants Demokratiebegriff, Ernst Cassirers Konzept der Pluralität der symbolischen Formen, Walter Benjamins Betrachtungen zu den politischen und soziokulturellen Einflüssen der ›neuen Medien‹ seiner Zeit (z.B. der Tonfilm) und Jürgen Habermas’ Überlegungen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit auseinander, um dann schließlich im letzten Fünftel des Artikels unmittelbar auf das angeschlagene Thema zu sprechen zu kommen:
»Das partizipatorische Paradigma findet hier nun all das technisch realisiert, was Benjamin sich von den zu seiner Zeit neuen Medien erwartet hat […] Aber, wie steht es denn eigentlich wirklich um die partizipativen Möglichkeiten des Web 2.0?
[…] Die Revolutionen in Nordafrika, die Aufstände in Iran und China werden in den Medien […] gefeiert als das Ergebnis neuer Öffentlichkeiten im Internet, gesteuert und befeuert durch Facebook und Twitter, Email, Smartphones etc. […] Was der Westen in den Medien gefeiert hat, war eine vor allem von Exilanten getragene mediale Begleitmusik der eigentlichen Revolutionen. Diese wurde in den betroffenen Ländern vielleicht wahrgenommen, hatte aber nicht wirklich die Bedeutung, die ihr im Westen beigemessen wurde.
[…] Der heutige Nutzer des Web 2.0 spiegelt sich durch die aus wirtschaftlichem Interesse betriebene Personalisierung immer nur in seinen eigenen Vorlieben und Peers. Unbekanntes, Fremdes, außerhalb der eigenen Lebenswelt Existierendes bekommt der Nutzer nicht mehr zu sehen, weder bei Google, noch bei Facebook. Folglich kann man der webbasierten Kommunikation und der aus ihr resultierenden Öffentlichkeit nicht mehr den gleichen Status einräumen wie zuvor. […] Dies hat Konsequenzen für ihre legitimatorische Kraft und ihr Verhältnis zur Demokratie.
Waren die Medien für Kant tatsächlich noch sinnvolle und positive “Extensions of Man”, so ist das bei Cassirer, Benjamin und Habermas nur der Fall, wenn die Medien tatsächlich zu einem einigermaßen unbehinderten Einsatz gelangen können. Die “Extension of Man”, die durch das Web 2.0 der Idee nach weiter forciert wird, wird durch die Phänomene der Selbstspiegelung durch Filterinstrumente in ihr Gegenteil verkehrt.«
Der Artikel mag häufig etwas unscharf und bildungsschwulstig erscheinen, was er aber u.a. leistet, ist die Einordnung der aktuellen Diskussion um den Einfluss von Social Media und Öffentlichkeit in einen breiteren historischen Kontext (darum ging es u.a. auch in NiDN). Und vor diesem Hintergrund zeigt sich – unabhängig davon, welcher Standpunkt in der Debatte um die Effekte neuer Medien vertreten wird – eines überdeutlich: Viele Hoffnungen, Visionen und auch Ängste gegenüber dem ›Web 2.0‹ sind seit vielen Jahrzehnten beständig wiederkehrende Elemente in den Diskussionen um die jeweils ›neuen Medien‹.