Splitter: Vaporware — Viel Lärm um nichts

27. August 2010

1983 angekündigt kam Windows 1.0 schließlich 1985 deutlich verspätet auf den Markt – der wohl bekannteste Fall von Vaporware. Doch was ist das? Letztlich schlicht Marketing-Blasen, die entweder den verfrühten Erscheinungstermin eines Produktes ankündigen oder aber: deren Ankündigungen niemals Realität werden. So lässt sich z.B. die Ankündigung durch Wilson 1975, dass die Soziobiologie die Soziologie binnen 25 Jahren obsolet werden lassen sollte, getrost als “wissenschaftliche Vaporware” bezeichnen. Eigentlich aber wird der Begriff Vaporware vordringlich in der Soft- und Hardware-Branche verwendet. Vaporware lässt sich oftmals als Synonym für übersteigerte Ambitionen fassen, die angefeuert von jüngsten Entwicklungen entweder die (technische) Machbarkeit an sich oder die eigenen Fähigkeiten überschätzen. Hier meine persönliche Vaporware-Top-5 mit Beiträgen aus den unterschiedlichsten Bereichen:

  • Duke Nukem Forever (Game): Angekündigt 1997, händeringend erwartet, aber noch immer in der Entwicklung. Die ursprünglichen Fans des Spiels sind heute um die 30 Jahre alt – ob da noch Interesse an einem aufgemotzten Ego-Shooter besteht? Hier ein aktueller Trailer
  • Der (e)film (Photographie): Angekündigt 1998 sollte diese digitale Filmpatrone den typischen Kleinbildfilm ersetzen, also digitale Bilder mit herkömmlichen Kameras möglich machen. Bis heute allerdings wartet die (vor dem Hintergrund mittlerweile sehr günstiger Digitalkameras nicht mehr wirklich interessierte) Öffentlichkeit auf das Produkt…

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  • Chinese Democracy” (Musik): Ein Beispiel für eine lange angekündigte und dann sogar tatsächlich erfolgte Veröffentlichung ist das langerwartete 6. Guns N´Roses Album (1994 angekündigt, 2008 veröffentlicht)…
  • Cyberdemokratie (Politik): Oft erhofft, aber auch mit dem Web 2.0 nicht Wirklichkeit geworden – mehr (Basis)Demokratie durch das Internet…
  • HDTV, frühere Vertreter der gleichen Kategorie: PALPlus, HD-MAC, aktuell vermutlich 3dtv (Technik): Erstmals angekündigt in den 1980ern kann sich HDTV als Sendenorm erst jetzt allmählich durchsetzen, und das, obwohl die dazu passenden Geräte schon seit Jahren in europäischen Wohnzimmern stehen. Es bleibt abzuwarten, ob es der 3D-Technik für das Pantoffelkino nicht ähnlich ergehen wird…

Ich wäre sehr interessiert an niemals oder erst sehr spät realisierten Produktankündigungen, die Euch über den Weg gelaufen sind… Einfach die Kommentarfunktion benutzen!


Luhmann vor dem World Wide Web

10. August 2010

Luhmann, der theoretische “Antihumanist“, hat sich, das zeigen vor allen Dingen Interviews, auch mit den Auswirkungen computergestützter Kommunikation auf die Gesellschaft beschäftigt. Etwas gemein, aber hier ein paar Aussagen, die der Systemtheoretiker größtenteils vor der sozialen Wirklichkeitswerdung des Internets getroffen hat:

… zur Computerisierung der Gesellschaft (1992, aus dem Buch “Was tun, Herr Luhmann” [Kadmos 2009]): “In den ersten gedruckten Büchern wurde der Leser aufgefordert, selber zu antworten, seine eigenen Erfahrungen, etwa mit Kräutern, an den Autor des Buches weiterzugeben. Der Leser wurde sogar aufgefordert, selbst Bücher zu schreiben. […] Ich sehe keine Veränderungen von gesellschaftlicher Tragweite. Ich beobachte nur Veränderungsstückchen, neue Möglichkeiten in verschiedenen Hinsichten, […] nichts, was dem kulturellen Stoßeffekt der Schrift gleichkäme. […] Ich sehe keine Ausweitung von Möglichkeiten, die den Organisationsaufwand und den Formfindungsaufwand schwieriger machen. Es fällt ja auf, dass beispielsweise die Computerisierung in Firmen mit fast unveränderten Organisationsformen durchgeführt wird”.

… zur Dezentralisierung durch Computerisierung (1993, ganzes Interview hier): “Die Computerisierung führt zu einer Dezentralisierung sowohl auf professioneller als auch auf organisatorischer Ebene und gerade nicht zu einer zentralen Kontrolle. […] Computersysteme thematisch zu zentralisieren, macht überhaupt keinen Sinn”.

… über das Verhältnis zwischen Web-Massenmedien (1997 , ganzes Interview hier): “Für Massenmedien selber werden die aktuellen technischen Innovationen wie das Internet oder individuell wählbare Informationen wenig Bedeutung haben. Sie werden sich neben Massenmedien wie Tageszeitungen oder auch das Fernsehen setzen, sie jedoch nicht verdrängen. Das Internet mit seinen Kommunikationsmöglichkeiten ist auch, wenn es massenhaft als Medium genutzt wird, kein Massenmedium, denn es ist ja gerade keine einseitige technische Kommunikation, sondern kann individuell genutzt werden. Die Sorge, dass neue Medien die traditionellen ersetzen, ist so alt wie unbegründet”.

… zu Computern und Information (1996, ganzer Vortrag hier): “Die Computer speichern und verarbeiten, wie man sagt, Informationen: aber ihre Schaltzustände sind und bleiben unsichtbar, und man muß schon wissen, was man wissen will, um ihnen Schrift, Tabelle, Bild oder Sprache zu entlocken. […] Die gespeicherten Daten, die Bücher in den Bibliotheken, die Dokumente in den Archiven, die Schaltzustände der Computer, sind zunächst ja nur virtuelle Information, die nur Information wird, wenn man sie nachfragt und sich durch Auskunft oder Ausdruck überraschen läßt. Zur Anfrage oder Abfrage bedarf es jedoch einer Entscheidung. […] Computer machen Eindruck, gerade weil man nicht sehen kann, wie sie arbeiten. Aber die Form der Information hat auch eine andere Seite. Sie reproduziert Wissen als Überraschung. Alles, was sie bestimmt, könnte auch anders bestimmt sein. Ihre Kosmologie ist eine Kosmologie nicht des Seins, sondern der Kontingenz”.


Soziologie und Innovation

29. Juli 2010

Allgemeinhin herrscht der Eindruck, dass die geisteswissenschaftliche und insbesondere die soziologische Forschung nur sehr träge auf Veränderungen im technischen Bereich reagiert. Dass dem nicht so sein muss, zeigte kürzlich eine Klausurtagung der führenden deutschen Technik- und Innovationssoziologen in Stuttgart. Unter den 35 Experten waren u.a. Werner Rammert (Berlin), Johannes Weyer (Dortmund), Ulrich Dolata (Stuttgart) und Christian Stegbauer (Frankfurt). Diskutiert wurden folgende Themenfelder:

  • Veränderungen von Arbeitsprozessen durch Online-Technologien, intelligente Infrastrukturtechnologien und hochtechnisierte Produktionssysteme;
  • Mensch-Maschine-Interaktionen (z.B. Flugzeug-Cockpits) und die Technisierung des Körpers (z.B. durch leistungssteigernde Medikamente);
  • Vergemeinschaftung und soziale Netzwerke im Internet;
  • Wechselprozesse zwischen technischem und sozialem Wandel;
  • Einflüsse von schwach organisierten kollektiven Akteuren (z.B. “Schwärme”);
  • Steuerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in Innovationsprozessen.

Den ausführlichen Tagungsbericht kann hier abgerufen werden.


Wired: iPad Edition – Paper is not dead yet

14. Juni 2010

Michael Gartenberg hat sich in seiner wöchentlichen Kolumne auf Engadget mit der iPad Edition des Wired Magazins beschäftigt und zeigt darin die mangelnde Flexibilität dieses neuen Angebots gegenüber klassischen Web- und Printangeboten auf:

The real problems are twofold. First, even though the content is digital, the reader loses most of digital content’s benefits. I can go to the Wired website, link to articles there on my blog, share them via email or Twitter and use the power of the web to share and opine. The iPad edition offers none of that flexibility — and it doesn’t offer any of the flexibility of paper either. I can annotate my paper version of Wired, clip out articles, or even pass the entire magazine on to you and you can in turn pass it on to others. I can’t do any of those things with the iPad edition.

Selbstredend können sich viele dieser Kritikpunkte in Zukunft in Luft auflösen, sobald die Entwickler die erweiterten Möglichkeiten des iPads mehr und mehr ausnutzen, aber immerhin gilt Wired noch immer als die Speerspitze digitaler Innovationen und zeigt mit seiner App doch ziemlich deutlich auf, welche Probleme in sich geschlossene Content-Angebote mit sich bringen, ganz abgesehen davon, dass ich mein iPad nicht so unbedarft mit an den Sandstrand mitnehmen kann wie ein Magazin für 2.99 €. Paper is not dead yet…

Update: Einen interessanten allgemeineren Beitrag zur Rolle des iPads im Spannungsfeld zwischen Papier und Bites/Bytes hat Gundolf F. Freyermuth verfasst.


Horst Köhler und die Kraft des Webs

31. Mai 2010

Ganz klar: Ein Kapitän sollte das Schiff nicht bei hohem Wellengang verlassen, sondern muss seines Amtes zumindest walten, bis ein sicherer Hafen in Sichtweite ist. Trotzdem: Mit Horst Köhler ist übel mitgespielt worden, insbesondere in einem ZEIT-Kommentar vonKarsten Polke-Majewski. Aber das ist eine Diskussion, die hier nicht geführt werden soll.

via Wiki Commons

Interessant ist in unserem Kontext freilich etwas ganz anderes, nämlich die Chronologie der Berichterstattung zu Köhlers umstrittenen Interview:

  • Am 22. Mai veröffentlicht der Deutschlandfunk eine Zusammenfassung des besagten Interviews mit unserem Bundespräsidenten (mittlerweile a.d.), allerdings ohne direkt auffindbaren Link zur entsprechenden Audio-Datei.
  • Am 25. Mai berichtet “Lupe, der Satire-Blog” ausführlich über das Interview und bringt neben einem Kommentar auch ein Video mit kompletter Audiospur des Interviews. Am gleichen Tag stellt das Blog “Bundeshorst” Strafanzeige gegen Horst Köhler aufgrund der fraglichen Passagen. Kurz danach ist das Interview vieldiskutiertes Thema in der deutschsprachigen Blogosphäre.
  • Erst am 27. Mai begannen die etablierten massenmedialen Kanäle wie der Spiegel über das Interview zu berichten und die Berichterstattungslawine kam ins Rollen – mit den nun allen bekannten Folgen.

Die Affäre um Horst Köhler ist damit ein perfektes Beispiel dafür, welchen Einfluss die Blogospähre auf die mediale Berichterstattung ausüben kann bzw. welchen Zeitvorsprung Social-News- und Blog-Leser im besten Falle haben…


iPad: Freiheit ist die einzige die fehlt

16. Mai 2010

Apple ist eine Glaubensfrage. Ja, Apple begrenzt den Aktionsradius von Endverbrauchern und Entwicklern. Ja, Apple wird (hoffentlich und sicherlich) wie jede Firma die Steigerung des eigenen Umsatzes bei jeder neuen Produktentwicklung im Hinterkopf behalten. Eine zumindest ambivalente Definition von Freiheit aber lieferte Steve Jobs (oder ein Apple-Mitarbeiter, der sein Mail-Alias verwenden darf) jüngst in einer Diskussion mit dem Blogger Ryan Tate:

The iPad offers “freedom from programs that steal your private data. Freedom from programs that trash your battery. Freedom from porn. Yep. Freedom. The times they are a changin’ […]. There are almost 200’000 apps in the App Store, so something must be going alright.”

Abgesehen davon, dass die Behauptung “Freedom from Porn” für jede Web-Schnittstelle (so auch für das iPad) problematisch ist, da über den eingebauten Browser schlicht jede erdenkliche Seite aufgerufen werden kann, zeugt es durchaus von einer gefährlichen Arroganz, einen berechtigten Einwurf hinsichtlich der inhaltlichen und strukturellen Offenheit von Apple-Produkten mit dem Hinweis zu beenden, dass einem der Erfolg ja recht gäbe.

Was würde passieren, wenn der Verweis auf den eigenen Erfolg das Letztargument in unserer Welt wäre? Die Geschichte (nicht nur die unsere) hält einige Antworten dazu bereit, die illustrieren, wie gefährlich eine solche Einstellung sein kann. Der große Vorsitzende Steve Jobs beendet die Diskussion mit Ryan Tate übrigens mit den Worten:

“By the way: What have you done that’s so great? Do you create anything, or just criticize others work?”


Das Web — Die Bibliothek zu Babel

4. Mai 2010

Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges veröffentlichte 1941 eine Erzählung mit dem Titel “La biblioteca de Babel” (hier als Hörbuch): Dargestellt wird eine Bibliothek aller schier möglichen Bücher, die zufällig in der Bibliothek angeordnet und äusserlich gleichförmig sind. In diesen Büchern findet sich jede mathematisch nur denkbare Kombination der 22+X Zeichen des lateinischen Alphabets.

Die Bibliothek sammelt jedes geschriebene Buch, egal ob Lüge oder Weisheit, Ehre oder Verrat, Pornographie oder Hochkultur. Menschen steifen durch die Bücherschluchten und suchen nach Bedeutung, allein den Sinn zu finden fällt den Meisten schwer. Die Bewertungspaare wahr/unwahr, Sinn/Unsinn, relevant/irrelevant führen zu blutigen Glaubenskriegen. Zu jedem “richtigen” Text existiert eine Gegentext, jeder zerstörte Text existiert milliardenfach in anderen Regalen, einzig unterscheidbar durch wenige veränderte Zeichen.

via Noelmas

Treffsicher umschreibt Borges also gut 50 Jahre vor seiner öffentlichen Geburt die Gabe und den Fluch des Webs (*1991, Berners-Lee stellt das Web vor), den Neil Postman, skeptischer Apostel einer zweiten Aufklärung, vor einigen Jahren wie folgt umschrieb:

Das Problem, das im einundzwanzigsten Jahrhundert gelöst werden muss, ist sicher nicht die Verbreitung von Information. Dieses Problem ist seit langem gelöst. Das anstehende Problem ist, wie man Information in Wissen verwandelt und wie Wissen in Erkenntnis (N. Postman: Die zweite Aufklärung. 1999, S. 124).

Und in der Tat: Verbreitung findet heute alles mögliche Private und Unprivate, Wesentliche und Unwesentliche, Interessante und gähnend Ermüdende. Zwar mögen jene Studien nicht Unrecht haben, die spätestens für 2020 davon ausgehen, dass 80% der Web-Inhalte durch die Nutzer selbst bereit gestellt würden, aber die verlieren ja auch nur wenige Worte darüber, um welche Inhalte es sich handelt. Gerade für solche Aussagen sollte man ein TÜF-Siegel einführen, dass in gewohnter Verwaltungsgenauigkeit zwischen kommunikativem Rauschen à la Facebook (“muss schon wieder zur Arbeit, aber es regnet”) und beständigen Informationsangeboten unterscheidet.

Das Problem, das die Menschen in der Bibliothek zu Babel und auch heute im Web lösen müssen, ist das Problem ein Orientierung und der Unterscheidung — das Problem der Selektion im Horizont knapper Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen. Und mag das Problem auch nicht so neu sein, wie es scheint (schon Luther beklagte seinerzeit, dass es angefangen habe “zu regnen mit Buechern und Meistern”), so muss doch nun wirklich jeder Onliner tagtäglich wirkungsvolle Verfahren entwickeln, um in seinen Beobachtungen das Erinnerungswerte und das Vernachlässigbare zu identifizieren. Kein Wunder also, dass die althergebrachten Auswahlinstanzen, ergo: die Massenmedien, neben Netzwerkplattformen und Suchdienstleistern im Online-Nexus noch immer die vordersten Ränge einnehmen.

Wenn Heller beschreibt, dass das Nadelöhr der Auswahl nicht mehr der Entstehung und Veröffentlichung vorgeschaltet ist, sondern der Lektüre, und seine Aussagen in einer Abwandlung von McLuhans berühmten Satz gipfeln — “die Anfrage ist die Botschaft” — dann umschreibt er damit letztlich Luhmanns Informationsbegriff, der Daten erst durch Auswahl zu individuell verwertbarer Information werden lässt, und wir könnten erkennen, dass das Internet zwar eine Bürde der Menschheit intensiviert hat, aber die Herausforderung der Selektion nicht neu heraufbeschworen hat.

Die Lösung dazu wird langfristig wohl kaum in algorithmischen Orientierungshilfen wie Google bestehen können (jedenfalls wäre das kaum wünschenswert), vielleicht aber in elaborierteren semantischen Verfahren. Ganz klar aber ist: Es macht keinen Sinn, die Bibliothek zu Babel unbeirrt und beinahe irrsinnig weiterzubauen.