Querverweis: Soziologie und Öffentlichkeit

15. September 2013

In der Soziologischen Revue 36(3) findet sich ein Essay von Ralf M. Damitz zum Verhältnis von Soziologie und Öffentlichkeit, das u.a mit Rekurs auf Michael Burawoy (»public sociology«), Fran Osreckis Buch »Die Diagnosegesellschaft« (2011), Annette Treibels und Stefan Selkes Artikel »Soziologie für die Öffentlichkeit« sowie meinen Beitrag zur »›Markenidentität‹ der Soziologie« die Frage diskutiert, was künftig »Zuschnitt und Intention soziologischer Erzählungen« sein kann und sollte:

»Hat unser Fach soziologische Erzählungen zu bieten, die es einer interessierten Öffentlichkeit erlauben, die Gesellschaft, in der wir leben, ein Stück weit les-, versteh- und vielleicht sogar handhabbarer zu machen?«

»Welches sind brennende Fragen, zu denen öffentliche Soziologie heute ihren Beitrag leisten kann? […] Haben ausgerechnet SoziologInnen wenig Ahnung von den Problemen ihrer Gesellschaft?«

»C. Wright Mills […] empfahl, die Formen individuellen Unbehagens, die typischerweise in Epochen sozialen Wandels entstehen, zum Ausgangspunkt der soziologischen Bemühung zu machen. Warum sollten Soziologen den Bedarf an öffentlicher Deutung und Erklärung solcher Phänomene Journalisten und allerlei fachfremden Intellektuellen überlassen?«


Tobias Bevc zum demokratischen Potential des Web 2.0 (Literaturhinweis)

4. September 2011

Tobias Bevc hat einen lesenswerten Artikel zum optisch nicht mehr ganz taufrischen Online-Magazin Telepolis beigesteuert, der einige »Überlegungen zum demokratischen Potential des Web 2.0« anstellt und teilweise zu recht kruden Kommentaren (1, 2, 3) geführt hat (die hier nicht näher diskutiert werden sollen, aber im Kontext der angeschlagenen Thematik wiederum zu Denken geben).

Facebookratie?

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Street View in der Global Village

22. August 2010

Mit Rekurs auf Luhmanns Informationsbegriff weist Jörg Räwel in Telepolis auf die Paradoxien hin, die mit einem Einspruch und der damit verknüpften Unkenntlichmachung der Gebäude bei Google Street View verbunden sind:

“Da von einem vergleichsweise kleinen Personenkreis auszugehen ist, der Häuserfassaden oder Grundstücke verblenden lässt, werden die – also vereinzelten – Verpixelungen beim Betrachten der Strassenpanoramen gewissermassen ins Auge springen. Es sind also gerade durch die Löschung verursachte Unterschiede (zu unverpixelten Immobilien), die informative Unterschiede erzeugen. Es darf dann mit Blick auf die hervorstechenden “Löschungen” vermutet werden: Der Bewohner dieses Hauses/Grundstücks ist sicher ein Googlekritiker, scheint von Datenmissbrauchsphobie befallen zu sein, hat was zu verbergen (Gibt es wohl Wertsachen in Haus?), scheint auf seinem Grundstück ein ziemliches Chaos zu haben […]. Entgegen naiver Überzeugung und dann paradoxer Weise werden mit dem Löschen (Verblenden, Verpixeln) von Daten keine Daten vernichtet, sondern werden vielmehr neue Daten erzeugt.”

Diese Beschreibungen gelten aber nicht nur für Abbildungen im digitalen Nexus, sondern ebenso in der Offline-Welt: Sobald ein Hausbesitzer eine große Mauer um sein Anwesen baut, provoziert er Neugierde und Aufmerksamkeit, d.h. er steigert die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sein Haus für kriminelle Machenschaften interessant wird, obwohl oder gerade weil er etwas verbirgt. Dies gilt zumindest in jeder durchschnittlichen deutschen Stadt.

In Windhoek (Namibia) hingegen ist beispielsweise eine Abschottung des Eigenheims mit entsprechender Sicherheitsanlage die Normalität (sobald man sich ein Haus leisten kann). In den entsprechenden Quartieren würde sich ein Hausbesitzer unterscheiden (und entsprechende Aufmerksamkeit erregen), der keine Sichtschutz- und Sicherheitsvorkehrungen trifft.

Wenn es also nicht üblich ist, die Bilder der Aussenfassaden seiner Wohnung oder seines Hauses in Street View zu verschlüsseln, fällt jede Verpixelung natürlich auf. Eine zu diskutierende Lösung wäre es folglich, zunächst einmal alle Privat-Immobilien zu Verpixeln und auf Anfrage “klar” zu schalten.

Auf der anderen Seite deutet schon das Wort “Fassade” auf den Denkfehler hin, der Street View-Kritikern unterläuft: Die Aussenhaut eines Gebäudes ist ja geradezu dazu gemacht, gesehen zu werden. Und dass mannigfaltige Spielarten angewendet werden, um sich diesbezüglich bewusst von seinen Nachbarn zu unterscheiden, lässt sich etwa in den Stuttgarter Wohnbieten auf Halbhöhenlage bestens beobachten. Warum sollten diese Fassaden offline sichtbar sein und Online verpixelt werden?

Einerseits profitiert jeder Online-Nutzer von den effizienteren Kommunikationsweisen und den damit verbundenen schier unendlichen neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die scheinbar so leicht und schnell erreichbar sind, wie früher die Kneipe im heimischen Dorf. Der Begriff “Global Village” trifft des Pudels Kern also zumindest teilweise. Andererseits aber sollen in dieser globalen digitalen Stadt nun die Fassaden der Häuser verhüllt werden?

Wer keine Daten zu seiner Person produzieren bzw. freigeben möchte, darf sich eigentlich kaum im World Wide Web bewegen, da jeder Mausklick protokolliert werden kann und viele Dienste nur sinnvoll nutzbar werden, wenn zumindest irgendeine digitale Identität angegeben wird. Wer an der vordigitalen Öffentlichkeit partizipieren wollte, wie sie etwa Sennett in ihrer Urform für das Ancien Régime beschrieben hat, musste – wie jeder Internetnutzer – heute damit leben, dass seine Mitmenschen registrieren, in welchen Gegenden er sich bewegt und was er in welchen Kneipen oder Cafè-Häusern macht. Wer in der Stadt bekannt war, musste damit rechnen, dass einzelne Mitmenschen hin und wieder wissen wollten, wie er denn so wohnt.

Vielmehr passiert heute auch nicht im Kontext von Street View: Wer sich unterscheidet (durch sein Verhalten, seine finanzielle Situation, die Fassade seines Hauses, seine Attitüde etc.) wird interessant für etwaige Beobachter. Wer vor der sozialen Wirklichkeitswerdung des Internets durch eine relevante Unterscheidung (z.B. durch ein protziges Haus) für das heimische Verbrechen interessant wurde, wird heute via Street View für international agierende kriminelle Organisationen interessant und muss ggf. entsprechende Vorsichtsmaßnahmen treffen.

So gesehen sind die Veränderungen durch Google Street View also nicht gravierend: Die Digitalmachung der Gebäudefassaden ist eine nahe liegende Konsequenz der kommunikationstechnischen Global Village, wobei McLuhan selbst später das Bild eines “globalen Theaters” präferierte. Ein drastischer Unterschied zu den öffentlichen Fassaden in der klassischen Stadt existiert dann aber doch: Bei entsprechendem Interesse kann sich jeder Spaziergänger die Gebäude und deren Fassaden auf gleiche eingehende Weise betrachten. Im Falle des privaten Unternehmens Google wissen wir hingegen nicht, welche Daten neben den Veröffentlichten noch in den Händen des Anbieters liegen.


Das Web — Die Bibliothek zu Babel

4. Mai 2010

Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges veröffentlichte 1941 eine Erzählung mit dem Titel “La biblioteca de Babel” (hier als Hörbuch): Dargestellt wird eine Bibliothek aller schier möglichen Bücher, die zufällig in der Bibliothek angeordnet und äusserlich gleichförmig sind. In diesen Büchern findet sich jede mathematisch nur denkbare Kombination der 22+X Zeichen des lateinischen Alphabets.

Die Bibliothek sammelt jedes geschriebene Buch, egal ob Lüge oder Weisheit, Ehre oder Verrat, Pornographie oder Hochkultur. Menschen steifen durch die Bücherschluchten und suchen nach Bedeutung, allein den Sinn zu finden fällt den Meisten schwer. Die Bewertungspaare wahr/unwahr, Sinn/Unsinn, relevant/irrelevant führen zu blutigen Glaubenskriegen. Zu jedem “richtigen” Text existiert eine Gegentext, jeder zerstörte Text existiert milliardenfach in anderen Regalen, einzig unterscheidbar durch wenige veränderte Zeichen.

via Noelmas

Treffsicher umschreibt Borges also gut 50 Jahre vor seiner öffentlichen Geburt die Gabe und den Fluch des Webs (*1991, Berners-Lee stellt das Web vor), den Neil Postman, skeptischer Apostel einer zweiten Aufklärung, vor einigen Jahren wie folgt umschrieb:

Das Problem, das im einundzwanzigsten Jahrhundert gelöst werden muss, ist sicher nicht die Verbreitung von Information. Dieses Problem ist seit langem gelöst. Das anstehende Problem ist, wie man Information in Wissen verwandelt und wie Wissen in Erkenntnis (N. Postman: Die zweite Aufklärung. 1999, S. 124).

Und in der Tat: Verbreitung findet heute alles mögliche Private und Unprivate, Wesentliche und Unwesentliche, Interessante und gähnend Ermüdende. Zwar mögen jene Studien nicht Unrecht haben, die spätestens für 2020 davon ausgehen, dass 80% der Web-Inhalte durch die Nutzer selbst bereit gestellt würden, aber die verlieren ja auch nur wenige Worte darüber, um welche Inhalte es sich handelt. Gerade für solche Aussagen sollte man ein TÜF-Siegel einführen, dass in gewohnter Verwaltungsgenauigkeit zwischen kommunikativem Rauschen à la Facebook (“muss schon wieder zur Arbeit, aber es regnet”) und beständigen Informationsangeboten unterscheidet.

Das Problem, das die Menschen in der Bibliothek zu Babel und auch heute im Web lösen müssen, ist das Problem ein Orientierung und der Unterscheidung — das Problem der Selektion im Horizont knapper Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen. Und mag das Problem auch nicht so neu sein, wie es scheint (schon Luther beklagte seinerzeit, dass es angefangen habe “zu regnen mit Buechern und Meistern”), so muss doch nun wirklich jeder Onliner tagtäglich wirkungsvolle Verfahren entwickeln, um in seinen Beobachtungen das Erinnerungswerte und das Vernachlässigbare zu identifizieren. Kein Wunder also, dass die althergebrachten Auswahlinstanzen, ergo: die Massenmedien, neben Netzwerkplattformen und Suchdienstleistern im Online-Nexus noch immer die vordersten Ränge einnehmen.

Wenn Heller beschreibt, dass das Nadelöhr der Auswahl nicht mehr der Entstehung und Veröffentlichung vorgeschaltet ist, sondern der Lektüre, und seine Aussagen in einer Abwandlung von McLuhans berühmten Satz gipfeln — “die Anfrage ist die Botschaft” — dann umschreibt er damit letztlich Luhmanns Informationsbegriff, der Daten erst durch Auswahl zu individuell verwertbarer Information werden lässt, und wir könnten erkennen, dass das Internet zwar eine Bürde der Menschheit intensiviert hat, aber die Herausforderung der Selektion nicht neu heraufbeschworen hat.

Die Lösung dazu wird langfristig wohl kaum in algorithmischen Orientierungshilfen wie Google bestehen können (jedenfalls wäre das kaum wünschenswert), vielleicht aber in elaborierteren semantischen Verfahren. Ganz klar aber ist: Es macht keinen Sinn, die Bibliothek zu Babel unbeirrt und beinahe irrsinnig weiterzubauen.