Elfmeter: Die doppelte Kontingenz

2. Juli 2010

Schussgeschwindigkeiten um die 100 km/h auf ein Tor mit  7,32 Metern Breite bzw.  2,44 Metern Höhe und mit einer Distanz zwischen Elfmeterpunkt und Torlinie, die vom Spielball in weniger als einer halben Sekunde überwunden wird, machten das Viertelfinale der FIFA-WM 2006 zwischen Deutschland und Argentinien zu einem nervenzerreißenden Krimi.

Das Elfmeterschießen ist ein Paradebeispiel für doppelte Kontingenz als das Grundproblem jeglicher Kommunikation: Der Wechselprozess zwischen den Erwartungen der teilhabenden Akteure, die sich indirekt aneinander ausrichten und jeweils auch anders sein könnten.

Lehmann hatte eine Vermutung, welche Ecke Rodriguez wählen könnte und  Rodriguez vermutete, dass Lehmann das vermutete. Daher tendierte er für die andere Ecke, wobei Lehmann wiederum vermutete, dass Rodriguez wußte, was er zuvor vermutete usw. usf. Rodriguez  verwandelte seinen Elfer, bei zwei weiteren Argentiniern lag hingegen Lehmann richtig.

Was heißt das nun für  Neuer und Podolski ? Einerseits ist die Wahrscheinlichkeit, den Elfer zu halten, für den Torwart statistisch gesehen gering: Über 80% dieser Strafstöße werden im WM-Kontext verwandelt. Entsprechend richten sich die Erwartungen des Publikums aus: Neuer wird nicht verdammt werden, wenn er den Ball nicht abwehren kann, Podolski hingegen schon, falls er verschießt.

Also heißt es für den Schützen, möglichst unberechenbar zu sein und seine Entscheidungen möglichst zufällig zu wechseln. Das allerdings entspricht nun nicht der menschlichen Natur und schon gar nicht der Relevanz der Situation, in der ein ganzes Land auf einen Treffer hofft. Welche Möglichkeiten Schütze und Keeper bleiben, haben die Leipziger Soziologen Roger Berger und Rupert Hammer anhand der Daten vieler Bundesliga-Spielzeiten in einem jüngst ausgezeichneten Artikel diskutiert:

  • Schüsse in die oberen Torecken sind beinahe unhaltbar, aber das Risiko, den Ball über die Latte zu semmeln ist nicht zu unterschätzen.
  • Genau in die Mitte zu schießen erscheint ebenfalls erfolgsversprechend, da der Keeper nur in 2% der Fälle nicht nach links oder nach rechts springt. Allerdings nur, wenn er nicht anhand der Schussbewegung antizipieren kann, dass der Ball in der Mitte landet.
  • Gemäß der analysierten Daten besitzt jeder Schütze einen  Schussfuß, den er gerade beim Elfmeter nicht wechselt und der die Wahrscheinlichkeit für eine “natürliche” Schussrichtung steigert. Das weiß natürlich auch der Torwart und wird versuchen, in die entsprechende Ecke zu springen. Der Schütze kann aber auch bewusst die andere Ecke wählen, selbst wenn der Schuss dann wahrscheinlich schwächer ist, weil er ja weiß, dass der Torwart höchstwahrscheinlich über seine “natürliche” Schussrichtung informiert ist.
  • Entgegen aller Vorurteile spielt der psychische Druck durch Heimspiele, einen knappen Spielstand oder einem späten Zeitpunkt im Spiel statistisch gesehen keine Rolle für den Erfolg des Strafstoßes.

Und das Fazit für Samstag? Bestenfalls macht sich der Schütze möglichst wenig Gedanken um seine Entscheidung und trifft eine auch in der Beobachtung rein zufällig erscheinende Wahl. Das allerdings ist leichter gesagt als getan, da der Spieler dann eigentlich gegen die ihm zugeschriebenen Regelmäßigkeiten (z.B. häufige Schussrichtung) ansteuern muss, die ihm nicht mal selbst bewusst sein müssen.

In der Kommunikation haben wir allerlei soziale Methoden und individuelle Brückenkonstruktionen entwickelt, um die doppelte Kontingenz zu reduzieren und die wechselseitigen Erwartungen aneinander auszurichten, denn in den meisten Fällen wollen wir ja durchaus verstehen und verstanden werden. In der Elfmeter-Situation ist das genau umgekehrt: Der Schütze möchte in seiner Entscheidung eben keineswegs durchschaut werden und ebensowenig möchte der Torwart Anzeichen dafür geben, welche Ecke er wohl deckt. Gleichzeitig wollen beide Seiten aber möglichst früh wissen, wie sich die andere Seite verhält.

Oder aber, man macht es wie Lukas Podolski und schießt einfach ohne unnötig nachzudenken.

___________

Zum Weiterlesen: Roger Berger und Rupert Hammer: „Die doppelte Kontingenz von Elfmeterschüssen“, Soziale Welt 58 (2007).


Wired: iPad Edition – Paper is not dead yet

14. Juni 2010

Michael Gartenberg hat sich in seiner wöchentlichen Kolumne auf Engadget mit der iPad Edition des Wired Magazins beschäftigt und zeigt darin die mangelnde Flexibilität dieses neuen Angebots gegenüber klassischen Web- und Printangeboten auf:

The real problems are twofold. First, even though the content is digital, the reader loses most of digital content’s benefits. I can go to the Wired website, link to articles there on my blog, share them via email or Twitter and use the power of the web to share and opine. The iPad edition offers none of that flexibility — and it doesn’t offer any of the flexibility of paper either. I can annotate my paper version of Wired, clip out articles, or even pass the entire magazine on to you and you can in turn pass it on to others. I can’t do any of those things with the iPad edition.

Selbstredend können sich viele dieser Kritikpunkte in Zukunft in Luft auflösen, sobald die Entwickler die erweiterten Möglichkeiten des iPads mehr und mehr ausnutzen, aber immerhin gilt Wired noch immer als die Speerspitze digitaler Innovationen und zeigt mit seiner App doch ziemlich deutlich auf, welche Probleme in sich geschlossene Content-Angebote mit sich bringen, ganz abgesehen davon, dass ich mein iPad nicht so unbedarft mit an den Sandstrand mitnehmen kann wie ein Magazin für 2.99 €. Paper is not dead yet…

Update: Einen interessanten allgemeineren Beitrag zur Rolle des iPads im Spannungsfeld zwischen Papier und Bites/Bytes hat Gundolf F. Freyermuth verfasst.


Horst Köhler und die Kraft des Webs

31. Mai 2010

Ganz klar: Ein Kapitän sollte das Schiff nicht bei hohem Wellengang verlassen, sondern muss seines Amtes zumindest walten, bis ein sicherer Hafen in Sichtweite ist. Trotzdem: Mit Horst Köhler ist übel mitgespielt worden, insbesondere in einem ZEIT-Kommentar vonKarsten Polke-Majewski. Aber das ist eine Diskussion, die hier nicht geführt werden soll.

via Wiki Commons

Interessant ist in unserem Kontext freilich etwas ganz anderes, nämlich die Chronologie der Berichterstattung zu Köhlers umstrittenen Interview:

  • Am 22. Mai veröffentlicht der Deutschlandfunk eine Zusammenfassung des besagten Interviews mit unserem Bundespräsidenten (mittlerweile a.d.), allerdings ohne direkt auffindbaren Link zur entsprechenden Audio-Datei.
  • Am 25. Mai berichtet “Lupe, der Satire-Blog” ausführlich über das Interview und bringt neben einem Kommentar auch ein Video mit kompletter Audiospur des Interviews. Am gleichen Tag stellt das Blog “Bundeshorst” Strafanzeige gegen Horst Köhler aufgrund der fraglichen Passagen. Kurz danach ist das Interview vieldiskutiertes Thema in der deutschsprachigen Blogosphäre.
  • Erst am 27. Mai begannen die etablierten massenmedialen Kanäle wie der Spiegel über das Interview zu berichten und die Berichterstattungslawine kam ins Rollen – mit den nun allen bekannten Folgen.

Die Affäre um Horst Köhler ist damit ein perfektes Beispiel dafür, welchen Einfluss die Blogospähre auf die mediale Berichterstattung ausüben kann bzw. welchen Zeitvorsprung Social-News- und Blog-Leser im besten Falle haben…


iPad: Freiheit ist die einzige die fehlt

16. Mai 2010

Apple ist eine Glaubensfrage. Ja, Apple begrenzt den Aktionsradius von Endverbrauchern und Entwicklern. Ja, Apple wird (hoffentlich und sicherlich) wie jede Firma die Steigerung des eigenen Umsatzes bei jeder neuen Produktentwicklung im Hinterkopf behalten. Eine zumindest ambivalente Definition von Freiheit aber lieferte Steve Jobs (oder ein Apple-Mitarbeiter, der sein Mail-Alias verwenden darf) jüngst in einer Diskussion mit dem Blogger Ryan Tate:

The iPad offers “freedom from programs that steal your private data. Freedom from programs that trash your battery. Freedom from porn. Yep. Freedom. The times they are a changin’ […]. There are almost 200’000 apps in the App Store, so something must be going alright.”

Abgesehen davon, dass die Behauptung “Freedom from Porn” für jede Web-Schnittstelle (so auch für das iPad) problematisch ist, da über den eingebauten Browser schlicht jede erdenkliche Seite aufgerufen werden kann, zeugt es durchaus von einer gefährlichen Arroganz, einen berechtigten Einwurf hinsichtlich der inhaltlichen und strukturellen Offenheit von Apple-Produkten mit dem Hinweis zu beenden, dass einem der Erfolg ja recht gäbe.

Was würde passieren, wenn der Verweis auf den eigenen Erfolg das Letztargument in unserer Welt wäre? Die Geschichte (nicht nur die unsere) hält einige Antworten dazu bereit, die illustrieren, wie gefährlich eine solche Einstellung sein kann. Der große Vorsitzende Steve Jobs beendet die Diskussion mit Ryan Tate übrigens mit den Worten:

“By the way: What have you done that’s so great? Do you create anything, or just criticize others work?”


Das Web — Die Bibliothek zu Babel

4. Mai 2010

Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges veröffentlichte 1941 eine Erzählung mit dem Titel “La biblioteca de Babel” (hier als Hörbuch): Dargestellt wird eine Bibliothek aller schier möglichen Bücher, die zufällig in der Bibliothek angeordnet und äusserlich gleichförmig sind. In diesen Büchern findet sich jede mathematisch nur denkbare Kombination der 22+X Zeichen des lateinischen Alphabets.

Die Bibliothek sammelt jedes geschriebene Buch, egal ob Lüge oder Weisheit, Ehre oder Verrat, Pornographie oder Hochkultur. Menschen steifen durch die Bücherschluchten und suchen nach Bedeutung, allein den Sinn zu finden fällt den Meisten schwer. Die Bewertungspaare wahr/unwahr, Sinn/Unsinn, relevant/irrelevant führen zu blutigen Glaubenskriegen. Zu jedem “richtigen” Text existiert eine Gegentext, jeder zerstörte Text existiert milliardenfach in anderen Regalen, einzig unterscheidbar durch wenige veränderte Zeichen.

via Noelmas

Treffsicher umschreibt Borges also gut 50 Jahre vor seiner öffentlichen Geburt die Gabe und den Fluch des Webs (*1991, Berners-Lee stellt das Web vor), den Neil Postman, skeptischer Apostel einer zweiten Aufklärung, vor einigen Jahren wie folgt umschrieb:

Das Problem, das im einundzwanzigsten Jahrhundert gelöst werden muss, ist sicher nicht die Verbreitung von Information. Dieses Problem ist seit langem gelöst. Das anstehende Problem ist, wie man Information in Wissen verwandelt und wie Wissen in Erkenntnis (N. Postman: Die zweite Aufklärung. 1999, S. 124).

Und in der Tat: Verbreitung findet heute alles mögliche Private und Unprivate, Wesentliche und Unwesentliche, Interessante und gähnend Ermüdende. Zwar mögen jene Studien nicht Unrecht haben, die spätestens für 2020 davon ausgehen, dass 80% der Web-Inhalte durch die Nutzer selbst bereit gestellt würden, aber die verlieren ja auch nur wenige Worte darüber, um welche Inhalte es sich handelt. Gerade für solche Aussagen sollte man ein TÜF-Siegel einführen, dass in gewohnter Verwaltungsgenauigkeit zwischen kommunikativem Rauschen à la Facebook (“muss schon wieder zur Arbeit, aber es regnet”) und beständigen Informationsangeboten unterscheidet.

Das Problem, das die Menschen in der Bibliothek zu Babel und auch heute im Web lösen müssen, ist das Problem ein Orientierung und der Unterscheidung — das Problem der Selektion im Horizont knapper Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen. Und mag das Problem auch nicht so neu sein, wie es scheint (schon Luther beklagte seinerzeit, dass es angefangen habe “zu regnen mit Buechern und Meistern”), so muss doch nun wirklich jeder Onliner tagtäglich wirkungsvolle Verfahren entwickeln, um in seinen Beobachtungen das Erinnerungswerte und das Vernachlässigbare zu identifizieren. Kein Wunder also, dass die althergebrachten Auswahlinstanzen, ergo: die Massenmedien, neben Netzwerkplattformen und Suchdienstleistern im Online-Nexus noch immer die vordersten Ränge einnehmen.

Wenn Heller beschreibt, dass das Nadelöhr der Auswahl nicht mehr der Entstehung und Veröffentlichung vorgeschaltet ist, sondern der Lektüre, und seine Aussagen in einer Abwandlung von McLuhans berühmten Satz gipfeln — “die Anfrage ist die Botschaft” — dann umschreibt er damit letztlich Luhmanns Informationsbegriff, der Daten erst durch Auswahl zu individuell verwertbarer Information werden lässt, und wir könnten erkennen, dass das Internet zwar eine Bürde der Menschheit intensiviert hat, aber die Herausforderung der Selektion nicht neu heraufbeschworen hat.

Die Lösung dazu wird langfristig wohl kaum in algorithmischen Orientierungshilfen wie Google bestehen können (jedenfalls wäre das kaum wünschenswert), vielleicht aber in elaborierteren semantischen Verfahren. Ganz klar aber ist: Es macht keinen Sinn, die Bibliothek zu Babel unbeirrt und beinahe irrsinnig weiterzubauen.


Miriam Meckel: This object cannot be liked

22. April 2010

Es bleibt wenig Zeit in diesen Tagen, aber doch genügend, um auf den Mitschnitt eines sehr interessanten Vortrags hinzuweisen, der  von Miriam Meckel auf der re:publica 2010 gehalten wurde: “This object cannot be liked – über die Grenzen menschlichen Ermessen und das Ermessen menschlicher Grenzen“.

“Was geschieht, wenn Profile an die Stelle von Persönlichkeiten treten? Wenn Neigungen und Abneigungen durch Algorithmen errechnet werden? Wenn das Denken der Datenauswertung weicht? Dann überantwortet der Mensch einen wachsenden Anteil seiner selbst an den Computer und beseitigt damit ein Momentum, das Leben menschlich macht: den Zufall.”


Surfen wir 2013 primär über Mobile Devices?

17. Dezember 2009

Gartner Research prognostiziert in einer aktuellen Studie, dass 2013 mehr Menschen über mobile Geräte das Internet nutzen werden, als am heimischen PC. Zu beachten gilt hierbei jedoch, dass sich die Prognose auf die weltweite Lage bezieht, also auch die wachsende Zahl an Internetnutzern e.g. in Afrika, welche oft nur über ein Handy, nicht aber über einen Computer verfügen, in das Ergebnis hineinspielt. Zudem muss genau beobachtet werden, welche Inhalte über welche Geräte angesteuert werden.

Es bleibt also spannend…

Update: Die Studie ist nun auch in ganzer Breite abrufbar (mittlerweile kostenpflichtig). Themen: IT Ownership, Cloud Computing, Social Computing, Sustainability (Green IT),  Internet Marketing, Mobile Commerce, Context Aware Computing, User Devices.

Ok, Gartner hat sich mittlerweile entschieden, ziemlich viel Geld für die gesamte Studie zu verlangen. Aber eine ausführliche Pressemitteilung mit den Kernergebnissen der Studie ist noch immer abrufbar.