Corona-Krise und Soziologie

15. März 2020

Die Corona-Krise und der aktuelle Shutdown des öffentlichen Lebens bietet eine gute Gelegenheit, über Gesellschaft nachzudenken – nicht nur mit Blick auf die Frage, welches Maß an sozialer Distanzierung die Ausbreitung des Virus’ verlangsamen und so die jeweiligen Gesundheitssysteme entlasten kann (siehe dazu einen Artikel der Washington Post), sondern z.B. auch hinsichtlich der Bedeutung öffentlicher Veranstaltungen und oft als selbstverständlich empfundener Versorgungsstrukturen in der Alltagswelt, der Relevanz journalistischer Nachrichtenmedien, dem Vertrauen in staatliche Strukturen, der Erosion von sozioökonomischer Erwartungssicherheit oder veränderten Formen des (technikvermittelten) sozialen Miteinanders.

Dementsprechend ist die Corona-Krise ein viel diskutiertes Thema auch unter Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern, wobei sich bislang naturgemäß primär einschlägige Zeit- und Gegenwartsdiagnostiker in die öffentliche Diskussion eingebracht haben. Nachfolgend fünf (zu ergänzende) Beispiele:

  • Harald Welzer sieht uns in einer »Situation, in der etwas geschehen ist, das fast alle Routinen und den Normalbetrieb unterbricht«. Daraus könne die Gesellschaft lernen, z.B. mit Blick auf die Verletzlichkeit einer globalisierten Wirtschaft: »Man lernt jetzt, wie unfassbar abhängig das normale Funktionieren unserer Gesellschaft von sehr schwachen Faktoren ist« (NDR). Und: »Der Klimawandel ist wahrscheinlich langfristig eine weit größere Gefahr für das Überleben als […] das Corona-Virus. […] also wenn wir nur ein Spurenelement des Virus-Aktivismus in der Klimapolitik sehen würden, dann wären wir schon erheblich weiter« (RBB).
  • Richard David Precht argumentiert auf ähnliche Weise, dass der Virus etwas eingeleitet hat, was die Klimakrise nicht geschafft hat: »Auf einmal ist alles anders […]. Der Staat greift ein, setzt unter Quarantäne, Veranstaltungen werden abgesagt, die Leute fliegen weniger. Plötzlich ist alles möglich, obwohl es sich um eine sehr kleine Bedrohung handelt. […]. Das weckt den Sinn für das Nachdenken«. Der aktuelle Umgang mit dem Virus zeige, »dass die Leute mehr Angst um ihr Leben haben als um das Überleben der Menschheit« (Focus).
  • Stephan Lessenich gab am 8. März 2020 in der Süddeutschen Zeitung zu Protokoll, dass nun »das Abbild unserer eigenen Vergangenheit« zu uns zurückkehre: »Früher hat Europa seine Infektionskrankheiten in die Welt getragen – und damit fette Beute gemacht. Die spanischen Konquistadoren Südamerikas schlugen die gottlosen Naturvölker mit den Waffen einer Zivilisation, nämlich mit hochinfektiösen Krankheiten […]. Was gerade zu uns zurückkehrt, […] sind Bestandteile unseres industrialistischen, kolonialen, imperialen Selbst, die wir […] in die Unsichtbarkeit abgedrängt hatten. […] Und womöglich auch das eigentlich Ansteckende am Coronavirus: Vielleicht sind wir ja schon infiziert von der Ahnung, dass die guten alten Zeiten vorbei sind und es uns an den Kragen geht.«
  • Anke Hassel und Christian Odendahl fordern in einem ZEIT-Gastbeitrag Hilfsleistungen für Menschen mit geringem Einkommen, die auch die häusliche Quarantäne vor höhere Herausforderungen stelle als Besserverdienende mit eigenem Garten: »Statt also das Geld für die frühzeitige Teilabschaffung des Soli zu verpulvern – die Nutznießer davon sind Menschen im oberen Drittel der Einkommensverteilung – sollte die Regierung jedem Bundesbürger ein Corona-Geld von 500 Euro zahlen, um für die nächsten Wochen finanziell das Nötigste abzufedern. Das hätte auch den Vorteil, dass der Konsum und damit die Wirtschaft in den Bereichen gestützt würde, die von Corona nicht betroffen sind, wie Onlineangebote, Versandhandel oder Lieferdienste.«
  • Ortwin Renn beschreibt die Reaktionen auf den Coronavirus in Deutschland als »relativ besonnen«, warnt aber zugleich: »Nicht nur der Virus ist ansteckend, sondern auch die Furcht«. Er erkennt auf der einen Seite neue Ausprägungen von Solidarität innerhalb der Bevölkerung, aber andererseits auch Routinen des egoistischen Verhaltens – »etwa bei Hygienemitteln, als die schwer zu bekommen waren. Beide Verhaltensweisen sind zu beobachten«. Langfirstig könnte die Pandemie aber auch zu der Stabilisation neuer positiver gesellschaftlicher Verhaltensweisen führen: »Man merkt: damit kann man eigentlich besser leben, auch freundlicher und auch insgesamt sorgsam miteinander leben. Dann kann es durchaus sein, dass sich das auch durchsetzt.« (Deutschlandfunk)

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