Fähren und Twitter: Infrastrukturen des Kollektiven (Literaturhinweis)
20. Februar 2013Sascha Lobo hat sich jüngst – für alle, die es auch wirklich noch nicht wussten – als Mitschöpfer der zunehmend populären Netzvokabel »Shitstorm« geoutet (und dafür z.T. recht hämische Kommentare eingeheimst). Ob Lobo’s Kolumne in irgendeiner Form weiterführend ist, sei dahingestellt – auf jeden Fall aber verweisen i.A. recht unscharf gehaltene Begriffe wie ›Shitstorm‹ oder auch ›Schwärme‹, ›Crowds‹ und ›Multitudes‹ auf Kollektiv-Phänomene im Netz, die sich nicht mehr umstandslos in eingespielte sozialwissenschaftliche Kategorien einordnen lassen.
Nichtsdestoweniger kann eine historische Rückbetrachtung auch mit Blick auf scheinbar brandneue Phänomene durchaus erhellend sein, wie Urs Stäheli in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung vorführt: In seinem sehr lesenswerten Artikel interessiert sich der Autor dafür, wie Kollektivität zustande kommt bzw. welche Rolle dabei materielle und mediale Infrastrukturen spielen – und schlägt dabei eine Brücke zwischen Fähren und Twitter.
Über Herbert Blumer, der kollektives Verhalten als »einen dynamischen Vorgang, einen Vorgang an der Umschlagsstelle von einer Zufallsverteilung zu einem sich selbst organisierenden Phänomen« (S. 102) verstanden hat, landet Stäheli zunächst bei den Beobachtungen des amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819–1892), der sich äußerst gerne auf Fährschiffen aufhielt:
(S. 109) »Die Masse auf der Fähre unterscheidet sich von einer bloßen zufälligen Ansammlung von Individuen – die gegenwärtigen und zukünftigen Passagiere teilen das gleiche sinnliche Erlebnis. Das Kollektiv wird hier zu einem Erfahrungs-Kollektiv in Bewegung, das hochgradig heterogen ist, temporär – in dem keine Kommunikation stattfindet, und doch wissen sich die [.] Passagiere als Teil eines Kollektivs […]. Hierbei handelt es sich nicht einfach um den Genuss eines Naturereignisses, sondern das Ereignis wird durch das Medium der Fähre möglich gemacht […].
(S. 111) Die Fähre ist damit eine Infrastruktur, welche das Erleben einer Menge so orchestriert, dass sie die Fahrt gleichzeitig erlebt. Gabriel Tarde hatte um die Jahrhundertwende die Struktur des Publikums (im Gegensatz zur Masse) genau mit dieser medialen Spezifik begründet: Ein Publikum zeichnet sich nicht primär dadurch aus, dass es die gleiche Vorlieben und Weltanschauungen teilt, sondern dadurch, dass diese Gleichzeitigkeit reflexiv wird. Die Zeitungsleser lesen nicht nur alle gleichzeitig, sondern sie wissen, dass sie die Zeitung gleichzeitig lesen. Die Beziehung zum Medium – die Nutzung des Mediums – macht aus dem Einzelnen Bestandteil eines virtuellen Kollektivs. Dies gilt keineswegs nur für alte Medien wie das Kino oder die Fähre, sondern fast noch grundlegender für neue soziale Medien.«
Weiterführend sind m.E. auch die abschließenden Thesen Stähelis zu einer gegenwärtigen Theorie der Kollektivität, die im Prinzip alle aus der historischen Fallbetrachtung des Fährbetriebs ableitbar sind:
(S. 113) »Erstens handelt es sich hier um Formen des sich Versammelns jenseits etablierter Identitäten. […] Die crowd, aber auch die Fährpassagiere – sie alle bestehen aus heterogenen Einheiten, die (im Gegensatz zu den traditionalen Gemeinschaften) immer wieder in neuen Kompositionen miteinander verbunden werden. […]
Das bedeutet aber auch, zweitens, dass solche Versammlungen nicht einfach spontan entstehen […]. Es bedarf Vorrichtungen, welche diese heterogenen Elemente zusammenbringen […]. Dies ist der Einsatz von ganz unterschiedlichen Infrastrukturen des Kollektiven […]. (S. 114) Dazu gehören materielle und virtuelle Arrangements, welche einerseits die für das Kollektiv entscheidende Versammlung erst erlauben, andererseits aber auch die Zirkulation von Gütern, Menschen und Informationen organisieren. Diese Infrastrukturen beschränken sich nicht auf die jeweilige Architektur oder technische Struktur […] Vielmehr gehören dazu auch die Protokolle dieser Infrastrukturen […]. Dies sind jene Regelsysteme – wie z.B. Fahrpläne […] – welche die materialen Artefakte erst benutzbar machen.
Drittens gilt es, den Zusammenhang von Infrastruktur, Bewegung und Kollektivität zu bedenken. (S. 115) […] Auch wenn sich die Zusammensetzung eines Kollektivs verändern sollte, so ermöglichen Infrastrukturen des Kollektiven die Wieder-Versammlung und auch die Wiederholung der Bewegungsströme des Kollektiven. […]
Viertens […] [sind] Infrastrukturen [.] nicht nur technische Einrichtungen, welche eine Funktion zu erfüllen haben […]. Vielmehr ermöglichen Infrastrukturen ungeplantes und emergentes Verhalten. Sie sind in diesem Sinne ökologische environments, die zur Grundlage ganz unterschiedlicher Prozesse werden können.
(S. 116) Fünftens konfrontieren Kollektivitäten deren analytische Erfassung mit einem besonderen Problem, da diese von sich aus meist keine Selbstbeschreibungen anfertigen. […] Die Infrastrukturen des Kollektiven selbst kanalisieren nicht nur Bewegungsströme, versammeln nicht nur Mengen und schaffen nicht nur gemeinsame Erfahrungen, sondern sie werden selbst zu Beschreibungsformeln dieser Kollektive.«