Horst Köhler und die Kraft des Webs

31. Mai 2010

Ganz klar: Ein Kapitän sollte das Schiff nicht bei hohem Wellengang verlassen, sondern muss seines Amtes zumindest walten, bis ein sicherer Hafen in Sichtweite ist. Trotzdem: Mit Horst Köhler ist übel mitgespielt worden, insbesondere in einem ZEIT-Kommentar vonKarsten Polke-Majewski. Aber das ist eine Diskussion, die hier nicht geführt werden soll.

via Wiki Commons

Interessant ist in unserem Kontext freilich etwas ganz anderes, nämlich die Chronologie der Berichterstattung zu Köhlers umstrittenen Interview:

  • Am 22. Mai veröffentlicht der Deutschlandfunk eine Zusammenfassung des besagten Interviews mit unserem Bundespräsidenten (mittlerweile a.d.), allerdings ohne direkt auffindbaren Link zur entsprechenden Audio-Datei.
  • Am 25. Mai berichtet “Lupe, der Satire-Blog” ausführlich über das Interview und bringt neben einem Kommentar auch ein Video mit kompletter Audiospur des Interviews. Am gleichen Tag stellt das Blog “Bundeshorst” Strafanzeige gegen Horst Köhler aufgrund der fraglichen Passagen. Kurz danach ist das Interview vieldiskutiertes Thema in der deutschsprachigen Blogosphäre.
  • Erst am 27. Mai begannen die etablierten massenmedialen Kanäle wie der Spiegel über das Interview zu berichten und die Berichterstattungslawine kam ins Rollen – mit den nun allen bekannten Folgen.

Die Affäre um Horst Köhler ist damit ein perfektes Beispiel dafür, welchen Einfluss die Blogospähre auf die mediale Berichterstattung ausüben kann bzw. welchen Zeitvorsprung Social-News- und Blog-Leser im besten Falle haben…


»So etwas muss sofort beseitigt werden!«

19. Mai 2010

Update: vgl. Luhmann @+/= Humor — Teil 2

Niklas Luhmann wirkt für viele Beobachter etwas trocken. Neulich allerdings ist mir ein etwas älterer Betrag Martin Kruckis‘ in die Hände gefallen, der auf den ganz eigenen, oft hintergründigen Humor des ehemaligen Verwaltungswissenschaftlers hinweist, ja in ihm sogar das „antiautoriäre, ja nahezu anarchistische Potential seiner Theorie“ erkennt. Grund genug, ein paar solcher Fragmente zusammenzutragen:

Im Zusammenhang mit der Gentechnik-Debatte zum Beispiel den “Vorschlag, die Gentechniker sollten Äpfel mit den gentechnischen Merkmalen von Glühwürmchen kreuzen, damit man die Äpfel auch bei Nacht pflücken könne.” (Luhmann via NDR)

“Es ist ungewöhnlich, wenn man in einer diplomarbeit die aussage ‘alles kacke’ findet.” (Luhmann in ‘Soziale Systeme’ via Pastor Storch)

“Ohne Thesenanschlag keine Reformation, ohne Preisschildchen kein reibungsloser Verkauf […]. Bei einem Versuch, mit einer Ladeninhaberin längere Verhandlungen über den Preis einer Tafel Schokolade zu führen, habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie anstelle von Argumenten immer wieder auf das Preisschildchen verwies, auf dem der Preis deutlich sichtbar aufgeschrieben war.” (Luhmann in ‘Soziale Systeme’, S. 583)

“Wenn man Gäste hat und ihnen Wein einschenkt, wird man nicht plötzlich auf die Idee kommen, die Gläser seien unerkennbare Dinge an sich […]. Oder wenn man angerufen wird und der Mensch auf der anderen Seite des Satelliten unangenehm wird, wird man ihm nicht sagen: Was wollen Sie eigent- lich, Sie sind doch bloß ein Konstrukt des Telephongesprächs!” (Luhmann in ‘Die Realität der Massenmedien’, S. 162)

“Luhmann im Hörsaal: ‘Herr Doktor Luhmann, was verstehen sie eigentlich unter Funktion? Geben sie doch bitte einmal ein Beispiel!’ Und Luhmann, quer zum Plenum auf dem Podium an einem Tisch sitzend, blickte verdutzt auf, überlegte, starrte gebannt auf die Tischplatte, auf die er mit einer Fungerkuppe kloppfte: ‘Die Funktion’, Pause, ‘die Funktion eines Tisches ist’, längere Pause, und dann, Stakkato: ‘ist, dass man einen Kaugummi darunter kleben kann.’ Und zurück schwang er sich in die Theorie.” (Luhmann via Bardmann/Baecker: ‘Gibt es eigentlich den Berliner Zoo noch?: Erinnerungen an Niklas Luhmann’, S. 17)

Allerdings reagierte Luhmann durchaus erschrocken, als er einmal auf seine “witzigen Beispiele” angesprochen wurde: “Wo stehen sie? So etwas muss sofort beseitigt werden!” (Luhmann via Rammstedt: ‘In Memoriam: Niklas Luhmann’, S. 19)

luhmann11

Update: Ein Kommentator hat weitere Fallbeispiele zur Verfügung gestellt (danke an Kai M.). Falls noch jemand über luhmannsche Gags gestolpert ist, bitte melden!

“Und nach der Logik der Organisation werden die seltsamsten Dinge verlangt und durchgesetzt: Man muß als Arbeiter Stunde auf Stunde die gleichen Löcher bohren, muß als Patient eines Krankenhauses, obwohl krank, morgens um 6 Uhr aufwachen und Fieber messen, muß als Professor in belanglosen, fast immer folgenlosen Sitzungen Protokoll führen.” (Macht und System, in: Universitas 1977,5:473-482)

“Ich verkenne nicht, daß es für viele von uns, besonders in Notlagen, das Bedürfnis geben kann, mit Gott zu kommunizieren. Aber wozu? – wenn man ihn weder über etwas informieren kann, was er noch nicht weiß, noch erwarten kann, daß die Kommunikation ihn zu etwas motivieren könnte, was er anderenfalls nicht tun würde.” (Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu? in: Soziologische Aufklärung 4 1987:231)

“Aber auch ‘Mitgliederinnen’ (wie man es zuweilen in Anreden wie ‘liebe Mitglieder und Mitgliederinnen’ schon hören kann) ist unerträglich. Was wäre der Singular? Und überhaupt: Mitglied ist, wie übrigens das Glied auch, sächlich. Es besteht also gar kein Anlass, eine Überschätzung des Männlichen abzuwehren. Wenn es dann doch schließlich geschieht, müssten die Männer schließlich verlangen, als Mitgliederer angesprochen zu werden.” (FAZ 30.09.2009:N5)


iPad: Freiheit ist die einzige die fehlt

16. Mai 2010

Apple ist eine Glaubensfrage. Ja, Apple begrenzt den Aktionsradius von Endverbrauchern und Entwicklern. Ja, Apple wird (hoffentlich und sicherlich) wie jede Firma die Steigerung des eigenen Umsatzes bei jeder neuen Produktentwicklung im Hinterkopf behalten. Eine zumindest ambivalente Definition von Freiheit aber lieferte Steve Jobs (oder ein Apple-Mitarbeiter, der sein Mail-Alias verwenden darf) jüngst in einer Diskussion mit dem Blogger Ryan Tate:

The iPad offers “freedom from programs that steal your private data. Freedom from programs that trash your battery. Freedom from porn. Yep. Freedom. The times they are a changin’ […]. There are almost 200’000 apps in the App Store, so something must be going alright.”

Steve uns Bill vereint (via Wiki Commons)

Steve uns Bill vereint (via Wiki Commons)

Abgesehen davon, dass die Behauptung “Freedom from Porn” für jede Web-Schnittstelle (so auch für das iPad) problematisch ist, da über den eingebauten Browser schlicht jede erdenkliche Seite aufgerufen werden kann, zeugt es durchaus von einer gefährlichen Arroganz, einen berechtigten Einwurf hinsichtlich der inhaltlichen und strukturellen Offenheit von Apple-Produkten mit dem Hinweis zu beenden, dass einem der Erfolg ja recht gäbe.

Was würde passieren, wenn der Verweis auf den eigenen Erfolg das Letztargument in unserer Welt wäre? Die Geschichte (nicht nur die unsere) hält einige Antworten dazu bereit, die illustrieren, wie gefährlich eine solche Einstellung sein kann. Der große Vorsitzende Steve Jobs beendet die Diskussion mit Ryan Tate übrigens mit den Worten:

“By the way: What have you done that’s so great? Do you create anything, or just criticize others work?”


Das Web — Die Bibliothek zu Babel

4. Mai 2010

Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges veröffentlichte 1941 eine Erzählung mit dem Titel “La biblioteca de Babel” (hier als Hörbuch): Dargestellt wird eine Bibliothek aller schier möglichen Bücher, die zufällig in der Bibliothek angeordnet und äusserlich gleichförmig sind. In diesen Büchern findet sich jede mathematisch nur denkbare Kombination der 22+X Zeichen des lateinischen Alphabets.

Die Bibliothek sammelt jedes geschriebene Buch, egal ob Lüge oder Weisheit, Ehre oder Verrat, Pornographie oder Hochkultur. Menschen steifen durch die Bücherschluchten und suchen nach Bedeutung, allein den Sinn zu finden fällt den Meisten schwer. Die Bewertungspaare wahr/unwahr, Sinn/Unsinn, relevant/irrelevant führen zu blutigen Glaubenskriegen. Zu jedem “richtigen” Text existiert eine Gegentext, jeder zerstörte Text existiert milliardenfach in anderen Regalen, einzig unterscheidbar durch wenige veränderte Zeichen.

via Noelmas

Treffsicher umschreibt Borges also gut 50 Jahre vor seiner öffentlichen Geburt die Gabe und den Fluch des Webs (*1991, Berners-Lee stellt das Web vor), den Neil Postman, skeptischer Apostel einer zweiten Aufklärung, vor einigen Jahren wie folgt umschrieb:

Das Problem, das im einundzwanzigsten Jahrhundert gelöst werden muss, ist sicher nicht die Verbreitung von Information. Dieses Problem ist seit langem gelöst. Das anstehende Problem ist, wie man Information in Wissen verwandelt und wie Wissen in Erkenntnis (N. Postman: Die zweite Aufklärung. 1999, S. 124).

Und in der Tat: Verbreitung findet heute alles mögliche Private und Unprivate, Wesentliche und Unwesentliche, Interessante und gähnend Ermüdende. Zwar mögen jene Studien nicht Unrecht haben, die spätestens für 2020 davon ausgehen, dass 80% der Web-Inhalte durch die Nutzer selbst bereit gestellt würden, aber die verlieren ja auch nur wenige Worte darüber, um welche Inhalte es sich handelt. Gerade für solche Aussagen sollte man ein TÜF-Siegel einführen, dass in gewohnter Verwaltungsgenauigkeit zwischen kommunikativem Rauschen à la Facebook (“muss schon wieder zur Arbeit, aber es regnet”) und beständigen Informationsangeboten unterscheidet.

Das Problem, das die Menschen in der Bibliothek zu Babel und auch heute im Web lösen müssen, ist das Problem ein Orientierung und der Unterscheidung — das Problem der Selektion im Horizont knapper Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen. Und mag das Problem auch nicht so neu sein, wie es scheint (schon Luther beklagte seinerzeit, dass es angefangen habe “zu regnen mit Buechern und Meistern”), so muss doch nun wirklich jeder Onliner tagtäglich wirkungsvolle Verfahren entwickeln, um in seinen Beobachtungen das Erinnerungswerte und das Vernachlässigbare zu identifizieren. Kein Wunder also, dass die althergebrachten Auswahlinstanzen, ergo: die Massenmedien, neben Netzwerkplattformen und Suchdienstleistern im Online-Nexus noch immer die vordersten Ränge einnehmen.

Wenn Heller beschreibt, dass das Nadelöhr der Auswahl nicht mehr der Entstehung und Veröffentlichung vorgeschaltet ist, sondern der Lektüre, und seine Aussagen in einer Abwandlung von McLuhans berühmten Satz gipfeln — “die Anfrage ist die Botschaft” — dann umschreibt er damit letztlich Luhmanns Informationsbegriff, der Daten erst durch Auswahl zu individuell verwertbarer Information werden lässt, und wir könnten erkennen, dass das Internet zwar eine Bürde der Menschheit intensiviert hat, aber die Herausforderung der Selektion nicht neu heraufbeschworen hat.

Die Lösung dazu wird langfristig wohl kaum in algorithmischen Orientierungshilfen wie Google bestehen können (jedenfalls wäre das kaum wünschenswert), vielleicht aber in elaborierteren semantischen Verfahren. Ganz klar aber ist: Es macht keinen Sinn, die Bibliothek zu Babel unbeirrt und beinahe irrsinnig weiterzubauen.