Kleine Geschichte des E-Books

2. September 2010

“Plötzlich kommt das elektronische Buch in vielen Versionen. Zusammen führen sie zu einer gewaltigen Veränderungen in den Beziehungen zwischen Autoren, Lesern, Verlagen, Buchhandlungen, Bibliotheken und Rezensenten, also der gesamten Welt des Buches oder einfach der ganzen Welt. Das herkömmliche Buch mit den Seiten aus Papier kann bereits auf dem Weg sein, ein nostalgisches Objekt zu werden, das vornehmlich antiquarisches Interesse auf sich zieht”.

Dieser Artikel-Teaser stammt nicht etwas aus dem Jahre 2010, sondern wurde 1998 in Telepolis veröffentlicht. Und tatsächlich, wir haben es schon beinahe vergessen: Ende der 1990er Jahre sollte unsere Gesellschaft nach Vorstellung vieler digitaler Evangelisten schon einmal durch die E-Books umdefiniert werden. Hin und wieder lohnt sich also der Blick zurück, um festzustellen, dass manche Innovationen und die aus ihnen entstehenden Hypes gar nicht so neu sind, wie es zunächst scheint.

Hier ein kurzer Überblick über die Geschichte des E-Books bzw. der E-Reader:

  • Mona Lisa Overdrive” von William Gibson wurde 1988 auf Floppy-Disk publiziert und war somit das erste elektronische Buch, das sich käuflich erwerben ließ.
  • Bereits 1990 bzw. 1993 brachte Sony den Data-Discman bzw. den Bookman heraus und vermarktete die Geräte als “Electronic Book Player”. Als Datenmedien dienten CD-Roms mit 8cm Durchmesser. Das Display verfügte über eine Auflösung von 256×160 Pixeln (S/W). Der Packung beigelegt waren elektronische Versionen des Bertelsmann Universal-Lexikons und des Langenscheidts Taschenwörterbuchs Englisch. Kritikpunkte und Gründe für die mangelnde Verbreitung waren das zu kleine Display, geringe Batterielaufzeiten und eine mangelhafte Suchfunktion.
  • 1998/99 wurde das Rocket eBook der Firma NuvoMedia geboren: Etwa 4000 Buchseiten passten auf den 4 (später 16) Megabyte großen Speicher des Geräts. Das Display hatte eine Auflösung von 480×320 Bildpunkten (SW), der als revolutionär eingestufte Reader (s.o.) war für gut 650 D-Mark zu haben. Die Reaktionen 5 Monate nach Markteinführung waren indes eher verhalten: “Nach 5 Monaten regelmäßiger Lektüre steht zumindest eines fest: Man kann auf dem Gerät problemlos längere Texte für längere Zeit lesen und der Kauf hat mich, trotz des happigen Preises von 675 Mark, nicht gereut – auch wenn die aktuelle Materialisierung meines Traums bestenfalls ein leidiger Kompromiss ist. Anders gesagt: Das Rocket E-Book ist – so, wie es derzeit ist – ein ziemlicher Murks” (Damaschke in Die Zeit 46/2000).
  • Im Jahr 2000 wurden NuvoMedia sowie SoftBookPress, ein anderer E-Reader-Hersteller von Gemstar übernommen, die kurz darauf mit dem REB 1100 und REB 1200 zwei runderneuerte Reader anbot. Im Jahr 2001 folgte der GEB 2200, ein Gerät, das ca. 1 Kilogramm schwer war, über ein Farbdisplay mit 640×480 Pixeln Auflösung, 8 Mbyte internen Speicher, einen Slot für Speicherkarten, ein Modem sowie eine Ethernet-Schnittstelle verfügte, so dass direkt auf den Online-Store des Unternehmens zurückgegriffen werden konnte, der ca. 1000 deutschsprachige Titel bereit hielt. Im Kaufpreis von ca. 650€ (später deutlich billiger) war ein sechwöchiges Abo des elektronischen Spiegels und ein vierwöchiges Abo der Financial Times inbegriffen.
  • Die Bemühungen von Gemstar fruchteten freilich nicht: Ende 2003 stellte das Unternehmen den Verkauf seiner Geräte weltweit ein. Anderen Firmen ging es ähnlich. Danach folgten weitere Versuche von Sony (LIBRIE EBR-1000EP 2004, erstmals mit E-Ink-Technologie), ab 2007 wagte sich die Philips-Tochter iRex Technologies mit dem iLiad auf den Markt, Amazon launchte 2007 den Kindle und Sony präsentierte 2008 den Sony-Reader.

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Der GEB 2200 E-Reader

Mit all diesen Geräten waren wichtige technische, aber auch konzeptionelle Weiterentwicklungen verbunden: Die Bedienung, der Lesekomfort und der Bezug von E-Books wurde stetig verbessert. Allein: Bislang konnten die E-Reader den Buchmarkt kaum revolutionieren, jedenfalls nicht in vergleichbarem Maße, wie die digitale Technik die Strukturen in anderen Bereichen umgekrempelt hat. Seit einigen Monaten nun ist das Apple iPad auf den Markt – mit angeschlossenem iBooks-Store, Touch-Screen, Umblätter-Animationen und allem Pipapo. Sicherlich ist das Gerät in vielerlei Hinsicht eine Bereicherung und taugt auch zum gelegentlichen Lesen. Ob es allerdings den Buchmarkt einschneidend verändern wird, steht noch in den Sternen, auch wenn der Hype um das Gerät durchaus schon mit dem E-Book-Hype aus den 1990er Jahren vergleichbar ist.

So zieht der Spiegel in einem aktuellen Bericht die Bilanz, dass der E-Book-Boom zumindest in Deutschland weiter auf sich warten lassen wird: Gerade einmal 20% der Deutschen wissen, was ein E-Reader ist. Die Durchdringung des Marktes lasse auf sich warten, auch weil das Inhaltsangebot noch immer zu klein und vor allen Dingen vollkommen überteuert sei. Das allerdings wurde schon zu Zeiten des Rocket eBook bzw. des GEB 2200 angemahnt (vgl. Manager Magazin 2001). Die Preispolitik lässt sich freilich ändern und das digitale Leseerlebnis hat sich mit jeder Neuentwicklung kontinuierlich verbessert. Zentrale Mankos bleiben aber neben dem fehlenden haptischen Erlebnis: Ein E-Book kann ich nicht gefahrenfrei an den Strand oder in den Park mitnehmen: Wenn ein klassisches Papierbuch nass oder dreckig wird, macht das wenig. Falls es geklaut wird, habe ich in den meisten Fällen weniger als 10 € verloren. Möchte ich das Buch einer Freundin oder einem Freund leihen, kann ich es ihm ohne Kopier- oder Konvertierungsaufwand mitgeben…


Wired: iPad Edition – Paper is not dead yet

14. Juni 2010

Michael Gartenberg hat sich in seiner wöchentlichen Kolumne auf Engadget mit der iPad Edition des Wired Magazins beschäftigt und zeigt darin die mangelnde Flexibilität dieses neuen Angebots gegenüber klassischen Web- und Printangeboten auf:

The real problems are twofold. First, even though the content is digital, the reader loses most of digital content’s benefits. I can go to the Wired website, link to articles there on my blog, share them via email or Twitter and use the power of the web to share and opine. The iPad edition offers none of that flexibility — and it doesn’t offer any of the flexibility of paper either. I can annotate my paper version of Wired, clip out articles, or even pass the entire magazine on to you and you can in turn pass it on to others. I can’t do any of those things with the iPad edition.

Selbstredend können sich viele dieser Kritikpunkte in Zukunft in Luft auflösen, sobald die Entwickler die erweiterten Möglichkeiten des iPads mehr und mehr ausnutzen, aber immerhin gilt Wired noch immer als die Speerspitze digitaler Innovationen und zeigt mit seiner App doch ziemlich deutlich auf, welche Probleme in sich geschlossene Content-Angebote mit sich bringen, ganz abgesehen davon, dass ich mein iPad nicht so unbedarft mit an den Sandstrand mitnehmen kann wie ein Magazin für 2.99 €. Paper is not dead yet…

Update: Einen interessanten allgemeineren Beitrag zur Rolle des iPads im Spannungsfeld zwischen Papier und Bites/Bytes hat Gundolf F. Freyermuth verfasst.


iPad: Freiheit ist die einzige die fehlt

16. Mai 2010

Apple ist eine Glaubensfrage. Ja, Apple begrenzt den Aktionsradius von Endverbrauchern und Entwicklern. Ja, Apple wird (hoffentlich und sicherlich) wie jede Firma die Steigerung des eigenen Umsatzes bei jeder neuen Produktentwicklung im Hinterkopf behalten. Eine zumindest ambivalente Definition von Freiheit aber lieferte Steve Jobs (oder ein Apple-Mitarbeiter, der sein Mail-Alias verwenden darf) jüngst in einer Diskussion mit dem Blogger Ryan Tate:

The iPad offers “freedom from programs that steal your private data. Freedom from programs that trash your battery. Freedom from porn. Yep. Freedom. The times they are a changin’ […]. There are almost 200’000 apps in the App Store, so something must be going alright.”

Steve uns Bill vereint (via Wiki Commons)

Steve uns Bill vereint (via Wiki Commons)

Abgesehen davon, dass die Behauptung “Freedom from Porn” für jede Web-Schnittstelle (so auch für das iPad) problematisch ist, da über den eingebauten Browser schlicht jede erdenkliche Seite aufgerufen werden kann, zeugt es durchaus von einer gefährlichen Arroganz, einen berechtigten Einwurf hinsichtlich der inhaltlichen und strukturellen Offenheit von Apple-Produkten mit dem Hinweis zu beenden, dass einem der Erfolg ja recht gäbe.

Was würde passieren, wenn der Verweis auf den eigenen Erfolg das Letztargument in unserer Welt wäre? Die Geschichte (nicht nur die unsere) hält einige Antworten dazu bereit, die illustrieren, wie gefährlich eine solche Einstellung sein kann. Der große Vorsitzende Steve Jobs beendet die Diskussion mit Ryan Tate übrigens mit den Worten:

“By the way: What have you done that’s so great? Do you create anything, or just criticize others work?”


Das Web — Die Bibliothek zu Babel

4. Mai 2010

Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges veröffentlichte 1941 eine Erzählung mit dem Titel “La biblioteca de Babel” (hier als Hörbuch): Dargestellt wird eine Bibliothek aller schier möglichen Bücher, die zufällig in der Bibliothek angeordnet und äusserlich gleichförmig sind. In diesen Büchern findet sich jede mathematisch nur denkbare Kombination der 22+X Zeichen des lateinischen Alphabets.

Die Bibliothek sammelt jedes geschriebene Buch, egal ob Lüge oder Weisheit, Ehre oder Verrat, Pornographie oder Hochkultur. Menschen steifen durch die Bücherschluchten und suchen nach Bedeutung, allein den Sinn zu finden fällt den Meisten schwer. Die Bewertungspaare wahr/unwahr, Sinn/Unsinn, relevant/irrelevant führen zu blutigen Glaubenskriegen. Zu jedem “richtigen” Text existiert eine Gegentext, jeder zerstörte Text existiert milliardenfach in anderen Regalen, einzig unterscheidbar durch wenige veränderte Zeichen.

via Noelmas

Treffsicher umschreibt Borges also gut 50 Jahre vor seiner öffentlichen Geburt die Gabe und den Fluch des Webs (*1991, Berners-Lee stellt das Web vor), den Neil Postman, skeptischer Apostel einer zweiten Aufklärung, vor einigen Jahren wie folgt umschrieb:

Das Problem, das im einundzwanzigsten Jahrhundert gelöst werden muss, ist sicher nicht die Verbreitung von Information. Dieses Problem ist seit langem gelöst. Das anstehende Problem ist, wie man Information in Wissen verwandelt und wie Wissen in Erkenntnis (N. Postman: Die zweite Aufklärung. 1999, S. 124).

Und in der Tat: Verbreitung findet heute alles mögliche Private und Unprivate, Wesentliche und Unwesentliche, Interessante und gähnend Ermüdende. Zwar mögen jene Studien nicht Unrecht haben, die spätestens für 2020 davon ausgehen, dass 80% der Web-Inhalte durch die Nutzer selbst bereit gestellt würden, aber die verlieren ja auch nur wenige Worte darüber, um welche Inhalte es sich handelt. Gerade für solche Aussagen sollte man ein TÜF-Siegel einführen, dass in gewohnter Verwaltungsgenauigkeit zwischen kommunikativem Rauschen à la Facebook (“muss schon wieder zur Arbeit, aber es regnet”) und beständigen Informationsangeboten unterscheidet.

Das Problem, das die Menschen in der Bibliothek zu Babel und auch heute im Web lösen müssen, ist das Problem ein Orientierung und der Unterscheidung — das Problem der Selektion im Horizont knapper Zeit- und Aufmerksamkeitsressourcen. Und mag das Problem auch nicht so neu sein, wie es scheint (schon Luther beklagte seinerzeit, dass es angefangen habe “zu regnen mit Buechern und Meistern”), so muss doch nun wirklich jeder Onliner tagtäglich wirkungsvolle Verfahren entwickeln, um in seinen Beobachtungen das Erinnerungswerte und das Vernachlässigbare zu identifizieren. Kein Wunder also, dass die althergebrachten Auswahlinstanzen, ergo: die Massenmedien, neben Netzwerkplattformen und Suchdienstleistern im Online-Nexus noch immer die vordersten Ränge einnehmen.

Wenn Heller beschreibt, dass das Nadelöhr der Auswahl nicht mehr der Entstehung und Veröffentlichung vorgeschaltet ist, sondern der Lektüre, und seine Aussagen in einer Abwandlung von McLuhans berühmten Satz gipfeln — “die Anfrage ist die Botschaft” — dann umschreibt er damit letztlich Luhmanns Informationsbegriff, der Daten erst durch Auswahl zu individuell verwertbarer Information werden lässt, und wir könnten erkennen, dass das Internet zwar eine Bürde der Menschheit intensiviert hat, aber die Herausforderung der Selektion nicht neu heraufbeschworen hat.

Die Lösung dazu wird langfristig wohl kaum in algorithmischen Orientierungshilfen wie Google bestehen können (jedenfalls wäre das kaum wünschenswert), vielleicht aber in elaborierteren semantischen Verfahren. Ganz klar aber ist: Es macht keinen Sinn, die Bibliothek zu Babel unbeirrt und beinahe irrsinnig weiterzubauen.