New Web Social-ism: Google+
6. Juli 2011Geht es nach den führenden Web-Unternehmen, gehören selbstständige Exkursionen in die Tiefen des Netzes in einigen Jahren der Vergangenheit an und unser Online-Erlebnis wird maßgeblich durch eine durchgestylte All-in-One-Plattform bestimmt, die uns sowohl die Individualkommunikation in allen erdenklichen Formen, aber auch die alltägliche Medienrezeption durch allseits verständliche Personalisierungsoptionen in der Datenzulieferung erleichtert.
Und trotz aller Bedenken derer, die sich selbst einer intellektuellen Onliner-Elite zuordnen (Stichworte: Datenschutz, Monopolisierung, Verprivatwirtschaftlichung): Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches komplexitätsreduktives Angebot auf breites Interesse stösst, scheint gemessen an aktuellen Eurostat-Erhebungsdaten zu den Internet-Kenntnissen der europäischen Bevölkerung durchaus hoch zu sein: Auch 2010 verfügten z.B. in der BRD nur 8 Prozent der Befragten über ein hohes Online-Kompetenzniveau und 41 Prozent machten im Netz nicht vielmehr als E-Mails versenden und Suchmaschinen bedienen. Es bleibt also augenscheinlich lediglich die Frage offen, welches Unternehmen dieses All-in-One-Portal betreiben wird, und die Abstimmung um diese schöne neue Online-Welt erfolgt per Klick…
Als ernsthafte Kandidaten für die Etablierung eines solchen Netzwelt-Betriebssystems wurden in den letzten Jahren wechselnde Unternehmen gehandelt: Die MySpace-Gründer hatten entsprechende Visionen im Kopf, Microsoft hat wie so oft eher erfolglos einige Versuchsballons in diese Richtung steigen lassen und die Apple-Fangemeinde wartet seit Jahren auf eine Keynote, in der Steve Jobs verkündet, dass die Konkurrenz das Wort »social« jahrelang missverstanden hat (insbesondere Twitter), nun aber aus Cupertino die ultimative Lösung für das soziale Web kommt.
Seit 2010 jedoch schien der Sieger in diesem Rennen mit Facebook ermittelt: MySpace verschwand langsam aber sicher von den Social-Media-Karten, Apple launchte mit iTunes Ping ein ausschließlich auf Musik spezialisiertes soziales Netzwerk, das Marktforschungs-Orakel Gartner notierte »By 2012, Facebook will become the hub for social network integration and Web socialization« – und Mark Zuckerberg gab im November 2010 schon einmal bekannt, dass Facebook auch die klassische E-Mail kolonialisieren werde.
Seit gut einer Woche aber fegt mit Google+ ein neuer Wind durch die auf Web-Innovationen sensibilisierten Blätterwälder – auch wenn der Dienst bislang aus Kapazitätsgründen nur von wenigen Auserwählten tatsächlich genutzt werden kann, weshalb Die Welt schon einmal vorauseilend vermutet: »Hält der Hype weiter an, könnte der Konzern das Internet allein beherrschen.« Ironischerweise heisst übrigens der derzeit populärste Google+-Nutzer Mark Zuckerberg (vgl. Socialstatistics).
Nach zwei eher erfolglosen Social-Web-Versuchen (Google Buzz und Google Waves) scheint es den Jungs um Larry Page also diesmal gelungen zu sein, gleich zu Beginn der Betaphase eine leichte Massenbegeisterung auszulösen – und dies liegt mit darin begründet, dass Google+ mit seinen zwei Kerninnovationen letztlich genau das einlöst, was sein Name verspricht:
- Circles ermöglichen eine intuitive Organisation von verschiedenen Freundes- und Bekanntenkreisen, wobei die Kontakte im Gegensatz zu Facebook nicht gegenseitig bestätigt werden müssen. Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf der Erstellung eines interaktiven Freunde-Albums, sondern auf der individuellen Organisation von Informationsquellen und Kommunikationskreisen.
- Sparks führen konsequent die Personalisierung in der Nachrichtenrezeption weiter, die mit Google Alerts und Google News ihren Anfang nahm: Hier lassen sich unkompliziert Themen- und Interessenstreams einrichten, die sich zudem mit weiteren Kontakten teilen lassen.
Mit diesen funktionalen Herzstücken besinnt sich Google auf seine Kernkompetenz, d.h. das Auffinden von Informationen, und fügt diese mit aufgebohrten Chat-Funktionen, Like-Buttons und weiteren Social-Web-Features zu einer vollintegrierten All-in-One-Plattform zusammen, von der sich der geschätzte Nutzer nur noch in Ausnahmefällen wegbewegen muss.
Offen bleibt momentan noch, wer diesen Dienst in welcher Intensität und zu welchen Zwecken nutzen wird: Bleibt Google+ wie Twitter oder Friendfeed einer relativ kleinen aktiven Social-Media-Gemeinde vorbehalten (z.B. weil das Gros der Onliner diese Funktionen gar nicht benötigt)? Oder entwickelt sich Google+ für die breite Bevölkerung zum alltäglichen Einstiegspunkt ins Web? Verlassen sich die Nutzer dann letztlich voll und ganz auf Googles Infrastruktur und verlernen sie das ungerichtete Surfen und Stöbern in den Datenfluten? Oder wird Google+ zu einem effizienzsteigernden Tool unter Vielen, das lediglich punktuell eingesetzt wird?