Cybook Orizon: Die Zukunft des Lesens?
27. November 2010Das Buch als entschleunigende Freizeitlektüre hat sich bislang in bemerkenswerter Weise der Digitalisierung entzogen: Zwar wird schon seit vielen Jahren über die Wachablösung des gedruckten Buches fabuliert und es werden immer wieder neue Versuche gestartet, die unterschiedlichen Anspruchsgruppen von den Vorzügen der E-Reader zu überzeugen, aber bis dato hat sich der durchschnittliche Bücherkonsument diesbezüglich als äußerst widerspenstig erwiesen. Und dabei geben sich auch hierzulande einige Hersteller, Buchhandelsunternehmen und Verlage redlich Mühe, mit stetig verbesserten Lesegeräten, intuitiveren virtuellen Buchläden und wachsenden E-Book-Katalogen an die Benutzerfreundlichkeit gedruckter Bücher heranzukommen.
Der neueste Versuch besteht in dem nur noch 8 Millimeter dünnen Cybook Orizon des französischen Unternehmens Bookeen, das seit ein paar Tagen für rund 230 Euro auch im deutschen Online-Handel erhältlich ist und die digitale Lektüre dank seines Multitouch-Displays ins Zeitalter des iPads katapultieren will. Vollmundig verspricht der hauseigene Werbetext eine neue Generation von E-Book-Readern, mit dem sich Texte auf einem hochauflösenden papierähnlichen Display (167 dpi) lesen und mit Fingerstrichen umblättern bzw. vergrößern lassen. Darüber hinaus soll das Gerät drei Wochen ohne Stromzufuhr auskommen, bis zu 2000 Bücher speichern, via W-LAN den Zugriff auf neue E-Books und das Internet allgemein ermöglichen und dem Leser zudem die Option bieten, Markierungen und Notizen im Text vorzunehmen.
Und tatsächlich, der erste Eindruck entspricht den Versprechungen: Text und Graustufenbilder erscheinen gestochen scharf und nach wenigen Minuten des Ausprobierens wird klar, dass das E-Paper-Display die Augen in der Tat weniger belastet, als etwa das hintergrundbeleuchtete Farbdisplay eines iPhones: Anders als LCDs reflektiert E-Paper das Licht wie herkömmliches Papier, Inhalte können angezeigt werden, ohne dass dafür eine Erhaltungsspannung notwendig würde, und aus diesem Grund wird auch nur beim Umblättern Strom verbraucht. Allerdings muss der geneigte Nutzer auf das kontrastreiche Leseerlebnis verzichten, das (chlorfrei) gebleichtes Papier bietet: Alles in allem erinnert das Text-Hintergrundverhältnis auf dem Display des Cybook Orizon doch stark an das Umweltschutzpapier der 1980er/1990er Jahre. Bei einigen Konkurrenten (z.B. Sony) ist das Kontrastverhältnis ein wenig besser, kommt aber trotzdem nicht über einen hellgräulichen Creme-Hintergrund hinaus.
Auch die Multitouch-Funktionen unterlaufen die Erwartungen zunächst nur geringfügig. Die meisten Gesten wie das Zoomen, Blättern oder Drehen, die der Nutzer von anderen Touchinterfaces kennt, funktionieren — solange man sich darauf einstellt, eher mit einem frühen Prototypen des iPhones zu interagieren denn mit einem aktuellen Modell: Das Problem, das der hektische Touch-User mit berührungsempfindlichem elektronischen Papier im Allgemeinen haben dürfte, besteht in seiner Trägheit: Nach jeder Geste vergeht gefühlt mindestens eine Sekunde, bis sich der Bildschirm regt. Schnelles Navigieren wird damit unmöglich.
Vor diesem Hintergrund eignen sich derzeit weder das Cybook Orizon noch andere E-Paper-Devices für das Lesen nichtlinearer Inhalte, da Interface-Interaktionen, die über das Umblättern hinausgehen, schnell zur Frustration führen. Eine W-LAN-Anbindung mit uneingeschränktem Internetzugriff hört sich daher im Pressetext ganz gut an, bleibt aber in der Praxis abgesehen von der Möglichkeit, im Online-Store direkt neue Bücher herunterladen zu können, vollkommen sinnfrei: Bevor ein Cybook-Nutzer beispielsweise diese Blogseite betrachten kann, muss er sich zunächst in sein W-LAN-Netzwerk einloggen, dann die Adresse eintippen und die Seite laden lassen. Jede dieser Aktionen dauert einige Sekunden, da das Display bei jedweder Eingabe nachladen muss. Ist er dann endlich auf der Seite, kann er z.B. mit Fingergesten scrollen, aber das funktioniert displaytechnisch bedingt nicht so nahtlos wie in modernen Browsern, sondern führt ständig zum gefühlten Neuaufbau der ganzen Seite. Am ehesten lässt sich dieses Surfgefühl mit dem Online-Erlebnis der mittleren 1990er Jahre vergleichen.
Abgesehen von diesen Tücken lässt sich das durch das Cybook Orizon vermittelte Leseerlebnis durchaus als gelungen bezeichnen, aber sein Einsatzgebiet geht eben kaum über das Lesen eines Romans oder anderer Freizeitliteratur hinaus: Der berufliche Einsatz gestaltet sich aufgrund nur schwergängiger Markierungs- und Notationsmöglichkeiten schwierig und das nicht immer lineare Blättern in Magazinen fällt auf dem 12×9 cm großen Display nicht nur aufgrund mangender Fläche, sondern auch angesichts der trägen Refresh-Raten schwer.
Alle geschilderten Eindrücke zusammengenommen führen zu der allgemeinen Frage, was für Otto Normalverbraucher gegenüber einem ordinären Taschenbuch die Vorteile und Nachteile eines solchen E-Readers sein könnten. Als Vorteil wird häufig aufgeführt, dass es dank E-Readern nun möglich wird, seine gesamte Bibliothek immer dabei zu haben – ähnlich wie die Musiksammlung auf dem iPod – und die Zeiten, in denen Vielleser mangels Buch auf dem Trockenen sitzen, nun endgültig vorbei sind. Dazu kommt der Raumgewinn, wenn nach den CDs nach und nach auch alle persönlichen Bücher digitalisiert werden und der durch sie eingenommene Platz im Wohnzimmer für andere Zwecke frei wird. Zudem sind E-Books nach aktuellem Stand ein wenig billiger zu haben als ihre gedruckten Pendants, lassen sich in Sachen Schriftgröße sowie Erscheinungsbild den eigenen Bedürfnissen anpassen und werden in Zukunft wohl auch noch mit Bonusmaterial oder Zusatzanimationen ausgestattet.
Die Nachteile des digitalen Schmökerns bestehen freilich nicht nur in der Geräteabhängigkeit (ein paar Euro teueres Taschenbuch kann ich mit Kaffee überschütten, an den Sandstrand mitnehmen oder auch verlieren ohne dass ein großer Verlust entsteht) oder in den Nutzungseinschränkungen, die in Zukunft in vielen Fällen noch aufgelöst werden könnten (z.B. schnelles Markieren, Verleih-Optionen), sondern vielleicht auch in der Techniknotwendigkeit an sich: Das geringe Interesse vieler Menschen gegenüber elektronischer Lektüre könnte auch darin begründet liegen, dass das Lesen eines haptisch wahrnehmbaren gedruckten Buches vom ersten bis zum letzten Kapitel eine der letzten Rückzugsmöglichkeiten für mediale Multitasker ist.