»Liebe Geisteswissenschaftler, […] vielleicht braucht Euch ja doch keiner«
19. August 2011Eigentlich sollte sich der nächste Gedankenstrich-Beitrag um die Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2011 drehen, da sich aber augenscheinlich in der Rezeption wenig am Verhältnis von Social Media und Massenmedien geändert hat und es in den letzten zwei Tagen ein polemischer Artikel des Attention-Bloggers Martin Seemann zum Verhältnis der Geistes- und Sozialwissenschaften mit der digitalen Gesellschaft geschafft hat, 80 Kommentare (!) zu generieren und ein Interview auf süddeutsche.de nach sich zu ziehen, erhält dieses Thema den Zuschlag.
Der Artikel
Michael Seemann ist »ein Fan der Geisteswissenschaft«, hält aber augenscheinlich nicht viel von ihren derzeitigen Vertretern:
»Ich habe ein Problem mit Euch, dem denkfaulen, behäbigen und selbstgerechten Personal, das bräsig in der Uni sitzt, Paper über Themen schreibt, die keinen interessieren und die keiner liest, während die Welt sich rasant verändert. […] Ich habe ein Problem mit Euch, die Ihr aus eitler Attitüde heraus das neue Feld des Geistes, der Kultur und des Menschen habt links liegen lassen und damit Euch selbst – Eure gesamte gesellschaftliche Relevanz – aufgegeben habt!«
Der Autor hat sich vermutlich gedacht, es sei besser mit dem Holzhammer eine Diskussion anzustossen als gar nicht – oder aber der gemeine Geistes- und Sozialwissenschaftler hat sich schlicht noch nicht daran gewöhnt, dass sich im Netz aus Sicht Seemanns nur mit Brachialthesen Aufmerksamkeit gewinnen lässt. Der Artikel fährt denn auch mit folgenden Anfragen an einzelne Subdisziplinen fort:
@Sozialwissenschaftler: »Hast Du schon Kooperationen mit Facebook, Google oder wenigstens StudiVZ gesucht, um an Daten heranzukommen, wie Menschen tatsächlich miteinander interagieren? Das, was Ihr all die jahrelang vor Euch hinfabuliert habt, harrt der empirischen Überprüfung. Die Daten sind da. Menschliche Interaktion ist heute messbar. Wann fangt Ihr an?«
@Politikwissenschaftler: »Hast Du Dich schon mal mit der Unternehmensstruktur des Googlekonzerns befasst? Kennst Du Dich aus, mit dem Plattformstreit? Verfolgst Du die aktuelle Evolution vom Dienst, zur Plattform, zum Markt, zum Ökosystem? […] Im Internet werden die Weichen der Zukunft gestellt, dort verlagern sich Gesellschaft und damit Macht, Aushandlungsprozesse und die Normativität des Faktischen hin.«
@Philosophen: »Hier werden Sprechakte und ihre Wirkung erfahrbar. Hier entstehen neue Formen des gemeinsamen Denkens, vielleicht sogar neue Formen von Bewusstsein. […] Warum müssen Journalisten, Techies, Ex-Hippies und Blogger Deinen Job übernehmen und die großen neuen Theorien, Utopien und Ethiken spinnen?«
Die Kommentare
Seemann selbst bezeichnet den Artikel in seiner Reaktion auf die Kommentare als »Rant« (Gerede), trotzdem aber fühlten sich in den vergangenen Tagen rund 80 Leser gemüßigt, auf die getätigten Aussagen zu reagieren. Nachfolgend eine selbstredend kontigente Auswahl:
Jörg Friedrich: »Philosophen machen keine Schnellschüsse. Man beobachtet, man beginnt, sich zu wundern. Erst dann kommt die Philosophie. Ob sich diese in Tweets, Google+Schnipseln oder Blogposts hinreichend formulieren lässt, ist auch noch eine offene Frage. […] Aber nur, weil die Digital Boheme eine Papier-Allergie hat, müssen die Beobachter der Digital Boheme nicht ihre Journale verbrennen.«
Klas: »[…] zumindest bei den Sozial- und Politikwissenschaftlern haust Du definitiv in ganz falsche Kerben … da gab es kritisch-konstruktive Betrachtungen von “Internet”, da warst _DU_ noch nichtmal online! Paradebeispiel sicher http://duplox.wzb.eu (anno 199x) […].«
Daniel: »Zudem wird – ironischerweise – die Selbstbezüglichkeit ja auch immer wieder den Bloggern selbst vorgeworfen. Zu Recht: Schließlich gibt es nur wenige Blogs, die sich mit der Finanzkrise oder Umweltpolitik beschäftigen, dafür aber weitaus mehr, die sich der Medien- oder Netzpolitik verschrieben haben.«
Raventhird: »Die Wahrheit ist leider anders rum: Die “digitale Elite” liest keine Bücher, nichts, was auf Papier steht und/oder in Unis produziert wird. […] Das einzige wirklich in sehr großem Umfang und auf hohem Niveau diskutierte Thema im Netz ist und bleibt das Netz.«
Gachmuret: »Natürlich beschäftigt sich nicht jeder Geisteswissenschaftler mit den Auswirkungen der Digitalisierung und Vernetzung. Das hängt aber gerne auch einfach damit zusammen, daß ein jeder Wissenschaftler seine eigenen Themen sucht. Und, so erstaunlich das klingen mag, aber es gibt tatsächlich auch Realitäten außerhalb des Netzes […].«
Max: »In der Tat hat die Geisteswissenschaft auf dem Gebiet ein Problem. Oft werden neue Entwicklungen viel zu spät wahrgenommen. Und noch viel schlimmer man versäumt es sich mit seinem Fachwissen in die öffentliche Debatte einzubringen. Seine Thesen lediglich in wissenschaftlichen Journalen zu publizieren mag den wissenschaftlichen Diskurs voranbringen. Aber die gesellschaftliche Relevanz wird dadurch nicht erhöht.«
Andreas: »Es gibt eine permanent wachsende Zahl von SoWis und Geisteswissenschaftlern, die sich mit Onlinedaten und Themen befassen. Nicht jede dieser Studien drängt direkt ins Licht der Öffentlichkeit, aber Wissenschaft ist in erster Linie keine PR und findet in der Regel nicht in den Feuilletons deutscher Zeitungen statt.«
Meine 50 Cent dazu
Ich kann nur für die Soziologie – und angesichts der zahlreichen Bindestrichsoziologien, theoretischen und empirischen Schulen auch nur für ›meine‹ Soziologie – sprechen, aber im Allgemeinen liefert die Soziologie natürlich kaum die schnellsten Antworten auf aktuelle Problemstellungen, sondern überlässt dieses Feld Kommentatoren aus den jeweils betroffenen Kommunikationssphären.
Darin besteht zumindest mit Blick auf die wissenschaftlichen Grundsätze z.B. von Auguste Comte, Norbert Elias, Niklas Luhmann oder auch Jürgen Habermas auch nicht ihre selbstgestellte Aufgabe, sondern vielmehr in der ›distanzierten‹ Beobachtung langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, in denen zahlreiche intendierte und ungeplante Dynamiken ineinander wirken. In dieser Beobachtung werden unterschiedlich ausgerichtete Analyseperspektiven angewendet und zwar mit dem Ziel, (1) Beschreibungsalternativen zu entwickeln, welche die Kontingenz eingespielter Betrachtungsweisen in funktionalen und lebensweltlichen Kontexten vor Augen führen, und (2) situative Aspekte bzw. langfristige Zusammenhänge offenzulegen, die im ›Tagesgeschäft‹ von Funktionssphären, Organisationen sowie Akteuren allzu oft untergehen. Der Soziologe (aus eliasscher Sicht) will ein Mythenjäger sein und diese Leistung kann er nur erbringen, solange er nicht ständig mit der heißen Nadel Aussagen zu tagesaktuellen Themen konstruieren muss, sondern sich mit der gebotenen Zeit differenziert in ein Thema einarbeiten kann – und das geschieht mit Blick auf das Internet durchaus.
Verbesserungswürdig erscheint aber natürlich die externe Kommunikation ihrer Forschungsergebnisse, z.B. gegenüber Wirtschaft, Politik und der allgemeinen Öffentlichkeit, denn letztlich bleibt die Soziologie zur Aufrechterhaltung ihres Forschungsbetriebs auf öffentliche Gelder bzw. Drittmittel und insofern auf ein öffentliches Bewusstsein um ihre Leistungen angewiesen. In den meisten Fällen müssen die einzelnen Wissenschaftler bei entsprechendem Interesse indes bislang selbst dafür sorgen, dass ihre Forschungssubstrate die Öffentlichkeit erreichen, ihr Wissen in eine öffentlichkeitswirksame Sprache übersetzen, dieses Wissen dann z.B. in Weblogs kommunizieren oder den Massenmedien direkte Beobachtungsangebote machen, die ihren Selektionskriterien entsprechen, wobei allzu massenwirksame Zeitdiagnostiker dann wiederum oft in der Wissenschaft einen schweren Stand haben.
Wenn die Soziologie eine öffentliche ›Reflexionswissenschaft‹ sein will, sollte sie ihre übergreifende Öffentlichkeitsarbeit ganz klar professionalisieren (wie es z.B. die Neurowissenschaften seit Jahren tun), aber eine mangelnde öffentliche Wahrnehmung heisst im Umkehrschluss keineswegs, dass eine wissenschaftliche Disziplin keine relevante Beschreibungslücke mehr füllt. Das Nutzenversprechen der Soziologie ist heute aufgrund ihrer Weiterentwicklung mithin natürlich nicht mehr so eindeutig wie jenes der kritischen Soziologie Anfang der 1970er Jahre, die mit ihren Analysen dazu beitragen wollte, »die Gesellschaft entgegen dem Huxlexschen Alptraum, entgegen dem Orwellschen Grauen, offenzuhalten [und sie] […] davor zu bewahren, sich unter einem autoritären Regime in eine geschlossene Anstalt zu verwandeln […].« (vgl. Jürgen Habermas (1971): Theorie und Praxis. Frankfurt (Main): Suhrkamp, S. 303).