Betreff: Web und Öffentlichkeit

22. Februar 2014

Gunnar Sohn hat in vor einigen Tagen eine Kolumne veröffentlicht, in der viele der Erwartungen aufgegriffen werden, die seit den 1990er Jahren ohnehin immer wieder in der Diskussion um den onlineinduzierten Wandel der Öffentlichkeit kursieren:

»Bundeskanzlerin Angela Merkel ahnte schon vor gut drei Jahren, dass sich die Theorie der öffentlichen Meinung wandelt und die alten Eliten in Politik, Wirtschaft und Verlagswesen ihre Deutungsmacht im massenmedialen Zirkus verlieren: […] ›Es gibt nicht mehr nur eine Öffentlichkeit, sondern viele Öffentlichkeiten, die ganz verschieden angesprochen werden müssen.‹ […] Soziale Netzwerke stehen vor allem für eine fundamentale Veränderung der öffentlichen Sphäre. Öffentliche und individuelle Kommunikation verschwimmen. […] Einwegkommunikation und ignorante Taktstock-Akteure verlieren dabei an Bedeutung – was einige Journalisten immer noch nicht kapiert haben […]. Die liebwertesten Elite-Gichtlinge der Republik müssen halt etwas bescheidener auftreten […].«

Zweifelsohne hat das Web einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Öffentlichkeitsstrukturen – auch weil es als Universalmedium die technischen Grenzen zwischen den unterschiedlichen Medienformen auflöst. Gleichwohl finden sich in dem kurzen Artikel eine Reihe gerne kolportierter Mythen, die den Blick auf die tatsächlich gegebenen vielschichtigeren Wandlungsprozesse verstellen.

›Öffentlichkeit‹ vs. Öffentlichkeiten?

Das fängt schon mit der Gegenüberstellung einer mit dem Web offensichtlich gewordenen Vielzahl an Teilöffentlichkeiten und einer früher scheinbar gegebenen einheitlichen ›Öffentlichkeit‹ an – ein Ausdruck, den bereits Negt/Kluge (1972: 17) als einen »Begriff von bemerkenswerter Schwammigkeit« charakterisiert haben, der in der deutschen Sprache (anders: public sphere) eine Einheitlichkeit suggeriert, die realiter kaum erreicht werden kann. Insofern wurde die ›öffentliche Meinung‹ durch Merten/Westerbarkey (1994: 201) zurecht als »Fiktion« markiert. Teilöffentlichkeiten mit ganz eigenen Sichtweisen auf die Wirklichkeit gab es auch schon vor 50 oder 100 Jahren – z.B. im Bereich sozialer Bewegungen, in Communities of Interest oder in organisationalen Kontexten (Blumer 1937; Hillery 1955) – und die ›allgemeine Öffentlichkeit‹ war seit jeher eher eine kommunikative Bezugsgröße, die allenfalls den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen diesen Sphären beschreiben konnte.

Unterschiedliche Wirkungsfelder

Und das geht weiter mit den seit Jahren stetig reformulierten Thesen zum Ende der Massenmedien und zum Relevanzverlust von professionellen Leistungsrollenträgern wie Journalisten, in deren Zuge die unterschiedlichen Wirkungsfelder der einzelnen Medienformen meist kaum reflektiert werden: Mikromedien wie der Brief, das Telefon, E-Mails oder Chats flexibilisieren auf der Ebene der Individualkommunikation den Austausch zwischen einer geringen Zahl an Personen; Mesomedien wie z.B. Weblogs, Twitter, Videoportale oder Spartensender effektivieren die Kommunikation in sachlich spezialisierten bzw. räumlich oder sozial eingegrenzten Sinnsphären; Massenmedien mit Millionenpublikum definieren unter der ständigen Konkurrenz der Anbieter auf Ebene der übergreifenden Gegenwartsbeschreibung, was kurzfristig gesellschaftweit relevant gesetzt wird, indem sie aus der Menge an zirkulierenden Inhalten jene Angebote synthetisieren, die sich durch allgemeine Anschlussfähigkeit auszeichnen.

Social Media und Massenmedien

Natürlich gibt es Ausnahmen wie z.B. Blogposts, Tweets oder Videobeiträge, die kurzfristig die geballte Aufmerksamkeit sehr vieler Onlinern erlangen; im Allgemeinen aber lassen sich die genuinen Wirkungsbereiche von Social Media und Massenmedien auf zwei verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeitsbeschreibung verorten:

  • Social Media effektivieren die Austauschprozesse und damit die Verbreitung von Inhalten sowie das Agenda-Setting auf der Meso-Ebene gesellschaftlicher Kommunikation. Die Bandbreite an zirkulierenden Sinnangeboten ist hier weitaus höher ist als in der gesamtgesellschaftlichen Gegenwartsbeschreibung.
  • Massenmedien hingegen liefern unspezifische Bezugsgrundlagen in der allgemeinen Kommunikation, indem sie diese vielen unterschiedlichen Issue Publics beobachten und relevante Neuerungen in den allgemeinen Diskurs einbringen. Eine gesamtgesellschaftliche Gegenwartsbeschreibung bleibt dabei nicht nur mit Blick auf übergreifende Entscheidungen notwendig, sondern auch aufgrund der prinzipiellen Knappheit zeitlicher wie kognitiver Ressourcen.

Insofern stehen Social Media und Massenmedien weniger in einem konkurrierenden als in einem komplementären Verhältnis. Nichtsdestotrotz führt das (Social) Web in mehrerer Hinsicht zu einer Erweiterung des Kommunikationsspektrums.

Algorithmisch vermittelte Kommunikationssphären

Mischformen zwischen ›privater‹ und ›öffentlicher‹ Kommunikation sind kein exklusives Phänomen der Internetgesellschaft. Eine neue Qualität aber bergen algorithmisch vermittelte persönliche Kommunikationssphären, in denen sich Nutzer von Social-Networking-Diensten wie Facebook bewegen. Sie zeichnen sich nicht nur durch die dauerhafte Auffindbarkeit, Übertragbarbarkeit, Skalierbarkeit und Durchsuchbarkeit ihre Inhalte aus, sondern darüber hinaus durch automatisierte zeitliche, sachliche und soziale Strukturierungsleistungen, die sich an der Plattformidentität des jeweiligen Nutzers ausrichten (Dickel 2013). Diese algorithmisch unterfütterten Filter­struk­turen effektivieren das individuelle Beziehungs-, Identitäts- und Informationsmanagement, bleiben aber nutzerseitig trotz vordergründiger Konfigurationsmöglichkeiten letztlich intransparent (was insbesondere in monopolartig strukturierten Märkten problematisch erscheint).

Sekundäre Leistungsrollenträger

Anders als mitunter erwartet, ist der professionelle Journalismus durch den Laienjournalismus im Web keineswegs obsolet geworden. Gleichwohl wird die klassische Zweiteilung zwischen Leistungs- und Publikumsrollen ein Stück weit aufgebrochen, da die Onlinetechnologien die punktuelle Ausführung journalistischer Tätigkeiten durch sogenannte ›sekundäre Leistungsrollenträger‹ deutlich erleichtern: Wie z.B. das GuttenPlag-Wiki zeigt, können Gruppen im Web die Integration bestimmter Themen in die gesamtgesellschaftliche Gegenwartsbeschreibung erheblich befördern (Reimer/Ruppert 2013). Die aktiv partizipierenden Onliner unterscheiden sich dabei vom reinen Publikumsstatus, da sie themenzentriert journalistische Recherche- und Ordnungsprogramme durchführen; sie lassen sich aber auch von primären Leistungsrollenträgern abgrenzen, da sie zentrale Merkmale journalistischer Identität wie Universalität oder Periodizität nicht erfüllen und ihre Arbeit in der Regel primär durch kurzfristige Anreize und individuelle Interessenlagen motiviert ist.

Sichtbarkeit und Durchlässigkeit

Die erweiterten Vernetzungsmöglichkeiten im Web tragen also erheblich zur Verdichtung der Austauschprozesse auf der Meso-Ebene gesellschaftlicher Kommunikation bei. Die Verbreitungsprozesse auf Meso-Ebene vollziehen sich dabei im Netz für funktionale Leistungsrollenträger deutlicher sichtbarer als früher, woraus sich zahlreiche neue Rückkoppelungsmöglichkeiten ergeben. Mit Blick auf das Verhältnis von Social Media und Massenmedien lässt sich daraus ableiten, dass für professionelle Journalisten sowohl die Zahl an Quellen, aber auch der Integrations- und Aktualitätsdruck erheblich ansteigt. Zudem lässt sich heute deutlich rascher nachvollziehen, ob die Leistungen journalistischer Anbieter von den Erwartungen abweichen, die an sie gerichtet werden, da Rezipienten im Social Web deutlich unkomplizierter als zuvor auf Irregularitäten aufmerksam machen können.

Demokratisierung?

Das Potential von Social Media zeigt sich insofern weniger in der Substitution massenmedialer Leistungen, sondern in einer erleichterten nutzerseitigen Diffusion von Inhalten und Stellungnahmen. Dadurch steigern sich nicht nur die Konstitutionschancen für themenzentrierte Öffentlichkeiten, sondern auch die Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeitsbeschreibung, wodurch beispielsweise Lücken in der massenmedialen Berichterstattung zeitnaher sichtbar werden können. Daraus aber per se ein demokratisierendes Momentum abzuleiten, erscheint verfrüht: Einerseits speisen sich die regelmäßig über individualkommunikative Kontexte hinaus aktiven Onliner im Social Web bislang aus sehr spezifischen Bevölkerungsteilen; andererseits bilden sich auch dort zunehmend wenige vielrezipierte Knotenpunkte heraus, während das Gros der dargebotenen Inhalte nur rudimentäre Beachtung findet.
_____
Enthält Auszüge aus: Dolata, Ulrich/Schrape, Jan-Felix (2013): Medien in Transformation. Radikaler Wandel als schrittweise Rekonfiguration. In: Dies. (Hg.) (2013): Internet, Mobile Devices und die Transformation der Medien. Berlin: Edition Sigma, S. 9–37.


Ähnliche Artikel

6 Kommentare zu “Betreff: Web und Öffentlichkeit”

  1. gsohn says:

    Es fehlen ein wenig die empirischen Befunde. Die würden mich in dieser Frage schon interessieren, egal, ob man die Theorie der öffentlichen Meinung nun für schwammig hält oder nicht. Medienkonsonanz konnte jedenfalls regelmäßig gemessen werden im Zusammenspiel mit der Bevölkerungsmeinung. Dass es auch früher nicht nur eine Öffentlichkeit gab, ist klar. Aber funktioniert der Mechanismus der Massenmedien in einzelnen Fällen noch genauso wie früher: Etwa in der Kriegspropaganda zum Jugoslawien-Einsatz, wo mit gefälschten “Beweisen” gearbeitet wurde und durchschlagende Wirkungen auf die veröffentlichte und öffentliche Meinung erzielte. Die Zustimmungswerte zum Kriegseinsatz stiegen damals an.

  2. Empirische Daten zu den Nutzungspräferenzen unterschiedlicher Altersgruppen oder sozialer Milieus, zum Verhältnis von nutzergenerierten und massenmedialen Inhalten und zu den Rückwirkungen unterschiedlicher Medienformen auf die Meinungsbildung – da findet sich mittlerweile Einiges, u.a. in diesem Blog, in den Media Perspektiven (http://www.media-perspektiven.de) oder auch in verschiedenen Sammelbänden zum Thema (z.B. http://www.amazon.de/Internet-Mobile-Devices-Transformation-Medien/dp/383603588X).

    Und klar gibt es auch prägnante Beispiele für die situative Kraft des Social Webs in dieser Hinsicht, etwa – ein etwas älteres Beispiel – im Kontext des umstrittenen Afghanistan-Interviews von Horst Köhler 2010 (http://gedankenstrich.org/2010/05/die-frage-nach-dem-respekt-und-die-kraft-des-webs/).

    Trotzdem bleibt es m.E. fraglich, ob ‘einseitige‘ oder vereinfachende Beschreibungen gerade in trans- oder internationalen Kontexten nicht immer noch eine große Rolle spielen können, zumal die Angebote klassischer massenmedialer Anbieter auch im Social Web zu den meistgeteilten Inhalten gehören (http://www.10000flies.de/blog/like-medien-und-blogcharts-ausgabe-12014/). Für den amerikanischen Raum kamen Waldman et al. (2011) zumindest zu dem Schluss, dass “the growing number of web outlines relies on a relatively fixed, or declining, pool of original reporting provided by traditional media”.

  3. gsohn says:

    Einverstanden mit dem letzten Absatz. Aber genau dazu gibt es bislang wenig empirische Befunde.

  4. Ja, das stimmt. Da gibt es noch viel zu tun.

  5. […] der Zukunft (10) Das Web — Die Bibliothek zu Babel (11) Habermas und das Internet (12) Betreff: Web und Öffentlichkeit (13) »Liebe Geisteswissenschaftler, […] vielleicht braucht Euch ja doch keiner« (14) Das […]

  6. […] nicht wegzudenken sind bzw. journalistische Angebote und das Social Web weniger in einem konkurrierenden als in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen, etabliert sich nach einer Phase des anfänglichen Hypes um die erweiterten […]