Buchmarkt: 55 Thesen und 3 Szenarien

26. Juni 2011

In der Taxierung der Rückwirkungen der neuen Technologien auf die Printmedien scheint der Trend in Richtung einer hohen Thesenanzahl zu gehen (vgl. Jeff Jarvis’ 36 Thesen zur Zukunft der News-Branche). Im Juni standen nun 55 Thesen zum deutschen Buchmarkt 2025 in der Diskussion, die von Matthias Ulmer (Verleger-Ausschuss), Heinrich Riethmüller (Sortimenter-Ausschuss) und Matthias Heinrich (Ausschuss für den Zwischenbuchhandel) entwickelt wurden und deren zentrale Aussagen sich im Groben auf 5 Punkte reduzieren lassen:

  • Gedruckte Medien verlieren an Bedeutung. Insbesondere der stationäre Buchhandel muss in den nächsten 15 Jahren mit einem Rückganz von ca. 30 Prozent rechnen. Paid-Content hingegen wird einen wachsenden Anteil am Gesamtumsatz einnehmen, wobei auf diesem Feld neue Anbieter Markteinfluss gewinnen werden.
  • Gedruckte Fachbücher und Bildungsmedien verlieren erheblich an Bedeutung (und damit auch deren stationärer Vertrieb). Insbesondere in diesen Bereichen sollten Verlage daher ein erweitertes Know-How hinsichtlich Konzeption, Produktion und Distribution von elektronischem Paid-Content aufbauen.

55 Thesen

  • Der Sortimentsbuchhandel muss neue Flächenkonzepte entwickeln, denn insbesondere die Kundengruppe der Studenten und das Schul- und Lehrbuchgeschäft wird den Buchhandlungen verloren gehen. Ebenso muss der Zwischenbuchhandel mit starken Einbussen rechnen.
  • Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels sollte sich angesichts der Umsatzverschiebungen zwischen gedruckten und digitalen Medien neu definieren und abwägen, inwieweit er auch neue Marktakteure repräsentieren will. Die Lobbyarbeit für die Sicherung des Urheberrechts, die Preisbindung und eine reduzierte Mehrwertsteuer bei elektronischen Produkten gewinnt an Bedeutung.
  • Angesichts der steigenden Zahl an publizierten Titeln steigt der Bedarf an Orientierungsmedien: »Ein übergreifendes Verzeichnis zum Nachweis und zur Bereitstellung von Mediadaten für Bücher, E-Books, Apps, E-Papers und anderen Paid-Content-Angeboten wird dringend benötigt.«

Die Kommentare auf buchreport.de und boersenblatt.net zu diesen Zukunftsausblicken fielen positiv bis (m. E. zurecht) kritisch aus: »Diese Untergangsszenarien wurden schon einmal prognostiziert…«»Das e-Wort beherrscht alle Gespräche. Jeder fragt nach Überlebensstrategien. Wie können Prognosen, die bis 2025 reichen sollen, elastisch genug berechnet werden? Aufregung auf allen Podien. […] Die Buchbranche zuallererst sollte […] nicht gebannt auf den Sekundenzeiger blicken. Kultureller Wandel ist oft schmerzlich, aber er vollzieht sich nicht in kurzen Sprüngen, wie der Modellwechsel in der IT-Industrie«»Wieso macht man sich eigentlich Gedanken über ungelegte Eier in 14 Jahren? Vor 14 Jahren im Jahr 1997 wusste auch kaum jemand das Internet und seine für den Handel angenehmen Folgen […] einzuschätzen«.

Aber immerhin: Die deutsche Buchbranche diskutiert die Herausforderungen, die durch digitale Medien und Mobile Devices wie das Apple iPad entstehen und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels organisiert nun im Herbst sogar eine Zukunftskonferenz, die sich mit den vorgestellten Thesen beschäftigt. Im Gegensatz zur Anfangszeit des Online-Buchhandels, in der viele etablierte Akteure der Branche schlicht die Zeichen der Zeit übersehen oder ignoriert haben, beschäftigen sich nun augenscheinlich nicht nur einige Segmente, sondern die deutsche Buchindustrie in toto mit der crossmedialen Zukunft und adäquaten Adaptionsstrategien für ihre Unternehmen und Institutionen.

Letztlich zielen die aktuell diskutierten 55 Thesen übrigens in eine ähnliche Richtung wie die drei Zukunftsszenarien, die in Gutenberg Galaxis Reloaded? (vgl. auch das zugrundeliegende Diskussionspapier) auf der Basis einer Langfrist-Rekonstruktion der Transformationen im deutschen Buchhandel entwickelt wurden:

  • Erweiterung: Neben Hörbüchern und elektronischen Fachbüchern stabilisiert sich ein weiterer Zusatzmarkt für belletristische E-Books als Ergänzung zu Druckwerken für den Mobileinsatz sowie für computeraffine Zielgruppen, die ansonsten kaum mehr zu einem Buch greifen würden. Somit käme es zu einer moderaten Erweiterung des Buchmarktes, dessen Grundstrukturen aber erhalten blieben. Ebenfalls denkbar wäre es, dass E-Reader in diesem Kontext hauptsächlich als Abrufgerät für illegal verbreitete ›kostenfreie‹ E-Book-Kopien genutzt werden.
  • Koexistenz: Die Bücherkonsumenten spalten sich in pragmatische Leser, die auf eine schnelle Verfügbarkeit und effiziente Archivierung von Inhalten Wert legen und daher auf digitale Bücher setzen, sowie Genussleser, die auf gedruckte Bücher als lineare und entschleunigende Freizeitlektüre zurückgreifen. In diesem Falle könnte sich sukzessive ein voll ausgebildeter Markt für E-Books stabilisieren, ohne dass es zu radikalen Erosionen in der parallel dazu weiter existierenden klassischen Produktions- und Distributionskette kommt.
  • Substitution: Spezifische E-Reader gehen langfristig in universell einsetzbaren Tablets auf, die mit ihren weiterentwickelten Displays farbigen Druckseiten in nichts mehr nachstehen und ebensoleicht mit Markierungen versehen werden können. Überdies weisen E-Books gegenüber gedruckten Büchern derart spürba-re Preisvorteile und Nutzungserweiterungen auf, dass physische Bücher zu teuren Premiumprodukten avancieren, die nur noch zu besonderen Anlässen oder von ausgewiesenen Papierliebhabern erworben werden. Träfe dieses Szenario ein, käme es zu einem substitutiven Wandel im Buchmarkt: Der Nischenmarkt der E-Books würde den Handel mit gedruckten Büchern weitgehend verdrängen.

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